Zum Inhalt springen

Die Gründung der Republik Türkei (29.10.1923)

von Andreas Schwarz

Das zwischen 1300 und 1922 bestehende Osmanische Reich prägte etwa 500 Jahre lang große Teile des Balkan und seiner Bevölkerung. Noch heute sind die orientalischen Einflüsse auf dem Balkan spürbar und Teil der balkanischen Kultur geworden. Makedonien und die makedonische Bevölkerung standen mit am längsten unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. In dieser Herrschaft lag auch die Ursache für das Aufkommen der makedonischen Frage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet. Zwei Balkankriege in den Jahren 1912 bis 1913 beendeten die nur noch in bestimmten Teilen des Balkans, vor allem in Makedonien und Thrakien, bestehende osmanische Herrschaft. Neben den äußeren Einflüssen von Kriegen und den Freiheitskämpfen von unter osmanischer Herrschaft stehenden Völkern führten auch innere Machtkämpfe und Revolutionen zu einer Schwächung des Osmanischen Reiches. Die Revolution der Jungtürken im Jahre 1908 führte zu einem Erstarken des türkischen Nationalismus auf Kosten der bisherigen Machtstrukturen des Osmanischen Reiches. Im November 1922 ging das Osmanische Reich dann schließlich unter. Aus den Trümmern dieses Reiches ging der türkische Staat hervor, der unter der Führung von Mustafa Kemal Pascha („Atatürk“) am 29.10.1923 als Republik Türkei proklamiert wurde.

Im Vorfeld der türkischen Republiksgründung

Mustafa Kemal Atatürk, Erster Präsident der Republik Türkei (Quelle: Wikimedia.org)

Die Ausrufung der Republik Türkei am 29.10.1923 durch Mustafa Kamal Pascha (Atatürk = Vater der Türken) ist das Ergebnis aus dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, der erfolgreich verlaufenden türkischen Befreiungskriege und der Absetzung des Sultans Mehmed VI. Das Osmanische Reich wurde im Frieden von Sèvres am 10.08.1920 im Wesentlichen auf die Gebiete von Anatolien und Konstantinopel (Istanbul) beschränkt. Die anderen Gebiete kamen nach diesem Frieden zum Teil unter fremder Besatzung oder fielen an neugegründete Staaten. Dieser noch von der osmanischen Regierung unterzeichneter Friedensvertrag wurde von Atatürk und seiner türkischen Befreiungsbewegung abgelehnt. Sie kämpften für die Errichtung eines modernen und souveränen türkischen Nationalstaates. Dieser Staat sollte ohne politische, rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit von anderen Staaten existieren. Für die innerhalb dieses Staates lebenden, über 40 ethnischen Gruppen mit der türkischen Ethnie als größte Gruppe sollte ein gemeinsames türkisches Nationalbewusstsein begründet werden. Der bereits 1919 unter der Führung von Atatürk einsetzende Befreiungskrieg gipfelte 1922/23 im Griechisch-Türkischen Krieg.  Dieser Krieg begann zunächst mit der Einnahme des europäischen Teils der Türkei durch Griechenland. In Folge wollte Griechenland die Türken aus Smyrna und der von Griechen besiedelten Küste Westanatoliens verdrängen. Allerdings siegte die Befreiungsarmee unter Atatürk und eroberte den europäischen Teil der Türkei wieder zurück. Der Griechisch-Türkische Krieg endete am 09.10.1922 mit der Einnahme der seinerzeit mehrheitlich von Griechen besiedelten Großstadt Smyrna durch türkische Truppen. Bereits am 11.10.1922 kam es ohne Beteiligung der Griechen in Mudanya zwischen der türkischen Regierung und den Alliierten zu Verhandlungen über ein Waffenstillstandsabkommen. Die noch existierende osmanische Regierung unter Sultan Mehmed VI. verlor immer mehr an Einfluss zugunsten der türkischen Regierung. Am 01.11.1922 beschloss die türkische Nationalversammlung die Trennung von Sultanat (weltliches Oberhaupt) und Kalifat (geistiges Oberhaupt). In Folge dessen musste der letzte osmanische Sultan Mehmed VI. abdanken und Mitte November das Land verlassen. Die letzte osmanische Regierung trat am 04.11.1922 zurück, womit das Osmanische Reich endgültig als Staat zu existieren aufhörte. Der Vertrag von Lausanne vom 24.07.1923 beendete formell den Griechisch-Türkischen Krieg bzw. den Türkischen Befreiungskrieg. Der von Atatürk und seiner Befreiungsbewegung bekämpfte Vertrag von  Sèvres wurde durch den  Vertrag von Lausanne revidiert, so dass ein Verlust von großen Teilen des heutigen Staatsgebietes der Türkei verhindert wurde und seine neuen Grenzen völkerrechtlich anerkannt wurden. In Folge des Vertrages kam es auch zum großen Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. Aufgrund des Vertrages von Lausanne war der türkische Staat außenpolitisch konsolidiert und konnte sich nun innenpolitischen Herausforderungen widmen.

 

Karte der Republik Türkei seit 1923

Die Gründung der Republik Türkei

Am 29.10.1923 erfolgte die Ausrufung der Republik Türkei durch Atatürk, der auch ihr erster Staatspräsident wurde und es bis zu seinem Tod im Jahre 1938 blieb. Die Entscheidung für eine Republik war unter anderem auch eine logische Folge aus der Abschaffung des Sultanats. Die moderne Türkei sollte sich deutlich von den Traditionen des Osmanischen Reiches abgrenzen und ein weltlicher Staat sein. Atatürk hatte sich zum Ziel gesetzt die Türkei zu einem modernen, säkularen und an den Westen orientierten Staat zu verwandeln. Zunächst wurde die Hauptstadt der Republik Türkei  von  Istanbul nach Ankara verlegt. Mit Wirkung zum 03.03.1924 wurde als letztes Relikt aus der osmanische Zeit das Kalifat abgeschafft. Am 20.04.1924 trat eine neue Verfassung für die Republik Türkei in Kraft. Mit Inkrafttreten dieser Verfassung wurden alle religiösen Gerichte abgeschafft. Der türkische Staat sollte sich nicht mehr an religiösen Maßstäben orientieren und rein weltlich organisiert sein. Neben dem politischen und gesellschaftlichen System kam es auch zu kulturellen Reformen. Der Fez als Hutform, bisher eine typisch osmanische Kopfbedeckung für Männer, wurde verboten. Ebenfalls verboten wurde der Schleier für die Frau und der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen wurde eingeführt. Die bisher geltende islamische Zeitrechnung wurde abgeschafft und als verbindlicher Kalender der Gregorianische eingeführt. Aus den europäischen Staaten wurde das metrische System und unter Anpassung an türkische Verhältnisse das Rechtssystem übernommen. Im Jahre 1926 wurden wesentliche Teile des Schweizer Zivilrechts eingeführt. Besonders hervorzuheben sei hierbei neben dem zugehörigen Zivilgesetzbuch und dem Obligationenrecht vor allem die Einehe, das Scheidungsrecht und die Gleichstellung von Mann und Frau. Nach dem Zivilrecht folgte die Einführung des deutschen Handelsrechts und des italienischen Strafrechts. In den Jahren 1928 und 1937 wurden die Säkularisierung und der Laizismus als Prinzipien in die türkische Verfassung aufgenommen. Die arabische Schrift wurde 1928 durch die lateinische Schrift ersetzt. Im Dezember 1934 wurden das aktive und das passive Wahlrecht auch für Frauen eingeführt.

Der Kemalismus als Grundlage des türkischen Staates

Grundlage für die Politik von Atatürk wurde die von ihm geprägte und nach ihm benannte Ideologie des Kemalismus. Dieser beruht auf folgenden sechs Prinzipien: türkischer Nationalismus, Laizismus, Republikanismus, Etatismus, Revolutionismus und Populismus.

Grundlegendes Ziel von Atatürk und seiner Bewegung war es aus dem Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches einen türkischen Nationalstaat zu formen. Grundlage des gemeinsamen Nationalbewusstseins sollte vor allem eine gemeinsame Sprache und die gemeinsame Geschichte der Bewohner der Türkei sein. Damit verbunden sollte auch das gemeinsame Schicksal als Nation sein. Der bisher identitätsstiftende Islam sollte durch eine weltliche, türkische Ideologie ersetzt werden. Dies führte allerdings im Ergebnis dazu dass nicht-ethnischen Türken ihre Kultur nicht mehr ausleben durften. So war es unter anderem bisher verboten neben der türkischen Sprache die Sprache einer anderen ethnischen Gruppe offiziell zu sprechen. Für den türkischen Staat gab es im Prinzip nur Türken und keine anderen ethnischen Gruppe. Dieser türkische Nationalismus führte zu Widerstand bei anderen in der Türkei lebenden und nicht anerkannten ethnischen Gruppen. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Kurden. Schon am 13.02.1925 kam es zu einem Aufstand der Kurden, die neben den ethnischen Türken die zweitgrößte Volksgruppe in der Türkei bilden. Ihr Aufstand wurde vom türkischen Militär gewaltsam niedergeschlagen. Noch heute kämpfen die Kurden für mehr kulturelle Rechte innerhalb der Türkei. Bis vor kurzen gab es sogar einen jahrzehntelangen bewaffneten Widerstand. Mittlerweile sind staatlicherseits Zugeständnisse an die Kurden gemacht worden während diese ihren bewaffneten Kampf vorläufig einstellten. Doch bis zu einer wirklichen Lösung der kurdischen Frage innerhalb der Türkei dürfte es noch ein langer Weg sein. Dies gilt natürlich auch für das Verhältnis der anderen nicht-ethnischen Türken zur türkischen Nation. Der türkische Nationalismus in seiner ursprünglichen Form ist an seine Grenzen gestoßen und bedarf einer Reform.

Der Laizismus bedeutet eine strikte Trennung von Staat und Religion. In staatlichen Belangen dürfen religiöse Würdenträger nicht mitreden. Der Islam ist zwar vorherrschend in der Türkei jedoch keine Staatsreligion. Das islamische Recht ist aufgehoben und beeinflusst nicht das staatliche Rechtssystem. Besondere Merkmale des Laizismus sind unter anderem ein weltliches Bildungssystem, in dem Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden oder das bisher strikt gehandhabte Kopftuchverbot im öffentlichen Raum.

Die Türkei soll ausschließlich die republikanische Staatsform und keine andere haben. Damit will sich der Kemalismus besonders von der monarchistischen Staatsform und Tradition des Osmanischen Reiches abgrenzen. Dies wird mit dem Republikanismus bezeichnet.

Der Etatismus bezeichnet das aktive Eingreifen des Staates in die Wirtschaft aufgrund fehlender Infrastruktur und mangelnder Industrialisierung. Der türkische Staat soll überall dort wirtschaftlich tätig werden, wo es an privatwirtschaftliches Engagement fehlt.

Der Revolutionismus bezeichnet die Umgestaltung der türkischen Gesellschaft nach den umfangreichen gesellschaftlichen und kulturellen Reformen, die von Atatürk durchgeführt worden sind und bis heute nachhaltig wirken.

Der Populismus als Prinzip bedeutet eine klassenübergreifende gesellschaftliche Kooperation und eine Zivilgesellschaft, in der alle sozialen Gruppen gleichberechtigt sind. Die Übernahme des Schweizer Zivilrechts mit der Gleichheit aller Individuen vor dem Gesetz oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau sind unter anderem Ausdruck des türkischen Populismus, der nichts mit der allgemein bekannten Bedeutung des Populismus zu tun hat.

Weitere Entwicklung und Ausblick

Das türkische Gesellschaftsmodell hat sich trotz bestimmter Schwächen im Wesentlichen bewährt. Die Reformen von Atatürk führten damals natürlich auch zu Widerstand bei den traditionalistischen Gruppen in der Türkei. Dennoch führten diese Reformen zu einem tiefgreifenden sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandel, der die Türkei bis heute prägt. Bestimmte Elemente des osmanischen Systems blieben allerdings auch erhalten. Dies sind vor allem die autoritäre Staatsführung sowie die Vorherrschaft des Militärs und des Beamtentums. Nach dem Tod Atatürks im Jahre 1938 setzte sein Weggefährte İsmet Inönü die Reformpolitik zwecks der weiteren Modernisierung der Türkei fort.  Dieser führte auch die Demokratisierung der Türkei fort, so dass es unter anderem 1945/46 zur Einführen von Mehrparteienwahlen kam. Insgesamt war die Republik Türkei bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch häufig von instabilen politischen Mehrheitsverhältnissen und damit verbundenen Regierungswechseln geprägt. Das türkische Militär verstand sich bisher als Hüter eines türkischen Gesellschaftssystems nach den Prinzipien des Kemalismus. In Folge kam es viermal zu einem Militärputsch oder zu einem Eingreifen des Militärs in die zivile Regierung der Türkei in den Jahren 1960, 1971, 1980 und 1997. Im Jahre 2002 gewann die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) mit 34,43 Prozent die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament, da bis auf eine Partei alle weiteren Parteien an der Zehn-Prozent-Hürde scheiterten. Parteivorsitzender Recep Tayyip Erdoğan konnte aufgrund einer früheren gerichtlichen Verurteilung wegen eines politischen Deliktes nicht selbst an der Parlamentswahl teilnehmen und so zunächst auch nicht Ministerpräsident werden. Bis zu einer Gesetzesänderung im Jahre 2003 übernahm sein Weggefährte Abbdullah Gül das Amt des Ministerpräsidenten. Danach konnte Erdoğan bei einer Nachwahl ein Parlamentsmandat erringen und wurde selbst Ministerpräsident. Abbdullah Gül ist seit dem Jahr 2007 Staatspräsident der Türkei. Der türkische Staatspräsident hat unter anderem die Funktion als Hüter der Verfassung und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Ansonsten hat er vor allem repräsentative Aufgaben. Unter Ministerpräsident Erdoğan wurden notwendige und  tiefgreifenden Reformen in der türkischen Gesellschaft begonnen. So wurde unter anderen damit Begonnen die Demokratie zu stärken und mehr Rechtsstaatlichkeit einzuführen. Die bisherige Macht des Militärs wurde zugunsten der zivilen Führung des Staates deutlich zurückgedrängt. Selbst in der sogenannten Kurdenfrage kam es zu einer positiven Entwicklung in Richtung mehr kulturelle Rechte für die Kurden. Auch die strikte Trennung von Staat und Religion in der türkischen Gesellschaft wurde unter der Regierung Erdoğan etwas zurückgenommen. So ist zum Beispiel das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Einrichtungen, etwa Universitäten, nicht mehr verboten. Unter der Regierung Erdoğan kam es auch zu einem großen Wirtschaftswachstum innerhalb der Türkei, von dem die türkische Bevölkerung profitierte. Damit verbunden ist auch ein größeres Selbstbewusstsein der Türkei in der Außenpolitik. Die Türkei ist weiterhin europäisch ausgerichtet und strebt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) an. Formelle Beitrittsgespräche laufen bereits, kommen allerdings sowohl aus außenpolitischen als auch aus innenpolitischen Gründen immer wieder ins Stocken. Hier sind vor allem der griechisch-türkische Gegensatz und die offene Zypernfrage ein Problem. In der Region sieht sich die Türkei als führende Regionalmacht und engagiert sich unter anderem im Nahostkonflikt. Die Regierung Erdoğan hat die türkische Gesellschaft zweifellos geprägt. Bei den Parlamentswahlen in den Jahren 2007 und 2011 erreichte die AKP mit 46,58 bzw. 49,84 Prozent deutlich die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Allerdings sind die Reformen auf allen Ebenen erheblich ins Stocken geraten. Ministerpräsident  Erdoğan agiert immer autoritärer und lässt keine wesentliche Kritik an seinem Regierungsstil zu. Dies führte zu Protesten bei einem Teil der Bevölkerung, die bis heute anhalten. Doch der einmal begonnene Reformweg muss bis zu seinem logischen Ende gegangen werden. Das türkische Gesellschaftsmodell kann, wenn es erfolgreich bis zu Ende reformiert wurde, eine Vorbildfunktion auch für die arabischen Nachbarstaaten haben. Doch auch im Innern der Republik Türkei wird ein reformiertes Gesellschaftsmodell türkischer Prägung die Gesellschaft weiter voran bringen und eines Tages vielleicht in die EU führen. Die Orientierung nach Europa war und ist auch ein Wert des Kemalismus, der unter anderem die Gründung der Republik Türkei am 29.10.1923 prägte.