von Andreas Schwarz
Am 28.11.1912 erklärte Albanien als Fürstentum seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Durch den Londoner Vertrag vom 30.05.1913, der formell den Ersten Balkankrieg beendete, wurde das Fürstentum Albanien völkerrechtlich anerkannt. Unterzeichner des Londoner Vertrages waren die am Ersten Balkankrieg beteiligten Staaten Bulgarien, Griechenland, Montenegro, Serbien und das Osmanische Reich. Vermittelt wurde dieser von Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Italien, Russland und dem Vereinigten Königreich. Allerdings fielen aufgrund des Londoner Vertrages bedeutende albanische Siedlungsgebiete an Griechenland, Montenegro und Serbien. Sie blieben damit außerhalb des albanischen Staates. Aufgrund des Zweiten Balkankrieges fiel auch ein Teil Makedoniens, der ebenfalls albanische Siedlungsgebiete umfasste, an Serbien. Diese Tatsache sollte dann die albanische Frage begründen, die uns zum Teil heute noch beschäftigt.
Hintergrund
Die albanische Staatsgründung erfolgte im Vergleich zu den anderen Balkanstaaten relativ spät. Der Grund dafür war die ebenfalls relativ späte albanische Nationalbewegung. Im Osmanischen Reich waren die hauptsächlich muslimischen Albaner gut integriert und gehörten zum Teil auch zur osmanischen Elite. Ihre ersten Forderungen nach Autonomie wurden 1878 erhoben. Die Autonomie und Unabhängigkeitsbestrebungen von Griechenland, Bulgarien, Serbien und Montenegro waren zu dieser Zeit bereits erfolgreich verlaufen und führten zu entsprechenden Staatenbildungen. Doch erst die diktatorische Herrschaft des jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt führten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu einem Bruch der Albaner mit der osmanischen Oberhoheit. Im Jahre 1910 kam es in der heutigen kosovarischen Hauptstadt Priština zu einem Aufstand der Albaner gegen die osmanische Herrschaft und schon zwei Jahre später erfolgte die Proklamation des albanischen Staates als Fürstentum. Zur Zeit der Proklamation befand sich das Osmanische Reich bereits im Ersten Balkankrieg mit Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien und konnte daher den albanischen Unabhängigkeitsbestrebungen nichts mehr entgegensetzen.
Die Proklamation des albanischen Staates
In Vlora trat ein albanischer Nationalkongress zusammen, der aus Vertretern der süd- und mittel-albanischen Siedlungsgebiete bestand. Dieser beschloss am 28.11.1912 einstimmig, dass Albanien selbstständig, frei und unabhängig sei. Anfang Dezember 1912 trafen auch die Vertreter der nord- albanischen Siedlungsgebiete in Vlora ein, womit der Kongress nun Vertreter aus allen wesentlichen albanischen Siedlungsgebieten umfasste und aus insgesamt 63 Vertretern bestand. Dieser bestellte eine provisorische Regierung unter Leitung von Ismail Qemali und Myfit Libohova. Die Hauptaufgabe dieser Regierung war die völkerrechtliche Anerkennung und Sicherung der Unabhängigkeit Albaniens. Im Innern musste ein Ausgleich zwischen den divergierenden politischen, regionalen, religiösen und sozialen Interessen herbeigeführt werden. Dies waren große Herausforderungen für den neuen albanischen Staat und seiner Regierung. Tatsächlich kontrollierte die albanische Regierung auch nur einen kleinen Teil der albanischen Siedlungsgebiete. Große Teile der albanischen Siedlungsgebiete waren bereits durch die Truppen von Griechenland, Montenegro und Serbien besetzt. Auch erzielte der Kongress keine Einigung über die Staatsform Albaniens, wenngleich er eine Präferenz für eine Monarchie zeigte. Diese Präferenz folgte aus osmanischen Traditionen und der Tatsache, dass alle Nachbarstaaten ebenfalls Monarchien waren. Die albanische Oberschicht favorisierte ebenfalls die Monarchie als Staatsform und man glaubte auch andere albanische Bevölkerungsteile eher unter eine Monarchie für den albanischen Staat gewinnen zu können. Aus diesen Gründen wurde Albanien ein Fürstentum und reihte sich damit den auf dem Balkan bestehenden Monarchien ein.
Der Weg zur völkerrechtlichen Anerkennung
Der aus Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien bestehende Balkanbund gegen das Osmanische Reich sah keinen unabhängigen albanischen Staat vor. Gemeinsame Kriegsziele waren die Beendigung der osmanischen Herrschaft und die Aufteilung eroberter Gebiete. Damit wären auch alle albanischen Siedlungsgebiete zwischen Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien aufgeteilt worden. Die Proklamation eines unabhängigen albanischen Staates durchbrach die ursprünglichen Ziele der im Balkanbund vertretenden Staaten. Letztendlich waren die massiven Einsprüche von Österreich-Ungarn und Italien gegen die Begehrlichkeiten auf albanische Siedlungsgebiete durch Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien entscheidend. Bereits auf der Londoner Botschaftskonferenz vom 16.12.1912 wurde Albanien durch Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Russland und das Vereinigte Königreich als unabhängiger Staat anerkannt. Auf der Botschaftskonferenz wurde am 27.12.1912 präzisiert, dass diese Unabhängigkeit in Form einer Autonomie unter dem Osmanischen Sultan Mehmed V. und unter Verwaltung der europäischen Großmächte erfolgen sollte. Serbien blieb damit eines seiner Kriegsziele verwehrt, einen Zugang zur Adria zu erhalten. Griechenland erhob Ansprüche auf weite Teile Südalbaniens und strebte eine entsprechende Grenzverschiebung Richtung Norden an. Dies wurde von Frankreich unterstützt und von Italien abgelehnt.
Infolge des Zweiten Balkankrieges einigten sich die europäischen Großmächte letztendlich auf ein Fürstentum Albanien ohne formelle Oberhoheit durch den osmanischen Sultan. Stattdessen sollte das Fürstentum Albanien ein europäisches Protektorat sein. Doch auch hier gab es große Differenzen zwischen den europäischen Großmächten. Der Dreibund aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien strebte ein Albanien unter österreichischer bzw. italienischer Oberhoheit an. Dies wurde jedoch von den anderen europäischen Großmächten abgelehnt. Hier gab es Pläne ein kleineres Albanien zu schaffen, indem Südalbanien an Griechenland und Nordalbanien ein Serbien angegliedert werden sollte. Der Londoner Vertrag zur Beendigung des Ersten Balkankrieges vom 30.05.1913 führte im Ergebnis zu einem Albanien in seinen heutigen Grenzen und beließ etwa einen Drittel der albanischen Siedlungsgebiete bei Griechenland, Montenegro und Serbien. Auch der Zweite Balkankrieg, der formell durch den Vertrag von Bukarest vom 10.08.1913 beendet wurde, bestätigte im Wesentlichen diese Situation. Genaugenommen wurden die Grenzen Albaniens aufgrund des Londoner Vertrages von verschiedenen internationalen Kommissionen festgelegt.
Das staatsrechtliche Schicksal der Angehörigen der albanischen Volksgruppe außerhalb Albaniens begründete die albanische Frage, die vor allem im Kosovo und im makedonischen Staat (heutige Republik Makedonien) akut werden sollte. Sowohl die allgemeine albanische Frage als auch die spezielle albanisch-makedonische Frage werden in dem Artikel „Die albanisch-makedonische Frage“ ausführlich thematisiert. Die divergierenden Interessen sowohl der europäischen Großmächte als auch von Griechenland, Montenegro und Serbien führten im Ergebnis zu einem Albanien in seinen heutigen Grenzen und zur albanischen Frage.
Die Konsolidierung des albanischen Staates
Mit der völkerrechtlichen Anerkennung von Albanien waren die Fragen nach der inneren Struktur des Staates noch nicht gelöst. Es musste ein Ausgleich zwischen den ethnischen und religiösen Gegensätzen geschaffen werden. Ethnisch zerfielen die Albaner in zwei kulturelle Gruppen: Den Gegen und den Tosken. Innerhalb dieser Gruppen gab es wiederum miteinander verfeindete Clans. Die griechisch-orthodoxen Albaner in Südalbanien bzw. Nordepirus fühlten sich kulturell mehr mit Griechenland verbunden als mit Albanien. Die römisch-katholischen Albaner wollten gegenüber der von muslimischen Albanern dominierten albanischen Regierung mehr Eigenständigkeit und fühlten sich von der muslimisch-albanischen Elite unterdrückt.
Grundsätzliche Einigkeit bestand zwar in der Monarchie als Staatsform, doch nicht wer als Monarch an der Spitze Albaniens stehen sollte. Essad Pascha Toptani übergab im April 1913 den Montenegrinern die albanischen Stadt Shkodra, um von diesen als König in Albanien anerkannt zu werden. In Albanien selbst wurde dieser Schritt jedoch nicht anerkannt. Stattdessen wurde ein Neffe des rumänischen Königin Elisabeth zu Wied am 30.05.1913 von 18 albanischen Vertretern zum Fürsten von Albanien bestimmt. Am 21.02.1914 wurde Wilhelm zu Wied zum Fürsten von Albanien gekrönt. Dieser betrat am 07.03.1914 zum ersten Mal albanischen Boden, wusste wenig über die dortigen Verhältnisse und war auf albanische Berater angewiesen. Der neue Fürst hatte kaum Einfluss in seinem neuen Staat und war daher nicht in der Lage Albanien zu regieren. Inneren Machtkämpfen zwischen lokalen Großgrundbesitzern konnte er ebenso wenig wirksam begegnen wie der andauernden griechischen Besetzung im Süden von Albanien. Tatsächlich beschränkte sich der Machtbereich des albanischen Fürsten nur auf Durrës, Vlora und Shkodra. Dort waren allerdings auch italienischen Truppen stationiert, die den albanischen Staat unterstützten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges machte die Lage noch auswegloser und so verließ am 03.09.1914 Wilhelm zu Fried Albanien. Er dankte nie ab und bis in das Jahr 1925 wurde die Regierungsgewalt in seinem Namen durch verschiedene Reichsverweser und Regierungen ausgeübt.
Die Festigung des albanischen Nationalstaates
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 wurde Albanien trotz seiner Neutralität von den kriegsführenden Nachbarstaaten Montenegro, Serbien und Italien weitgehend besetzt. Während des Ersten Weltkrieges wurde Albanien zu einem Objekt von unterschiedlichen Begehrlichkeiten der Nachbarstaaten und der europäischen Großmächte. Auch Bulgarien, Griechenland, Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei verfolgten jetzt gegensätzliche Interessen in Albanien. 1915 wurde Albanien im Norden durch Österreich-Ungarn und im Süden durch Frankreich und Griechenland militärisch besetzt. Auf der Pariser Friedenskonferenz (18.01.1919 – 21.01.1920) sollte auch das Schicksal Albaniens geregelt werden. Die Albaner selbst waren nur informell und durch verschiedene Delegationen vertreten. Es gab zu dieser Zeit keine stabile und von allen als Verhandlungspartner anerkannte albanische Regierung. Zunächst schien sich der Plan durchzusetzen, wonach Albanien ein italienisches Protektorat werden sollte, um eine Aufteilung Albaniens zu verhindern. Dieser Plan blieb jedoch in Albanien umstritten, worauf zwischen dem 28.01. und 31.01.1920 ein albanischer Nationalkongress in Lushnja stattfand.
Der Kongress von Lushnja führte im Ergebnis zu einem gefestigten albanischen Staat und zu einer Etablierung der albanischen Nation. Insgesamt nahmen 50 Vertreter aus allen Teilen Albaniens teil, darunter auch lokale Machthaber wie Stammesfürsten, Großgrundbesitzer und Abgesandte der großen Städte. Der Kongress sprach sich für die territoriale Integrität Albaniens aus, lehnte jede Aufteilung Albaniens und Fremdherrschaft in Albanien ab. Zur Hauptstadt bestimmte der Kongress die bis dahin unbedeutende Stadt Tirana, die bis heute Hauptstadt Albaniens ist. Bereits am zweiten Tag einigte sich der Kongress auf eine provisorische Verfassung und legte die Grundsätze der Staatsorganisation fest. Geschaffen wurden unter anderem ein Hoher Rat, der aus den Vertretern der vier in Albanien vorherrschenden Religionen bestand und ein Nationalrat aus 37 Mitgliedern. Bei Uneinigkeit zwischen diesen beiden Gremien war die Einberufung eines Nationalkongresses vorgesehen. Einer der Mitglieder des Hohen Rates sollte als Staatsoberhaupt fungieren. Zudem bestimmte der Hohe Rat eine vom Nationalrat zu bestätigende Regierung. Der Regierung stand Sulejman Bej Delvina vor. Innenminister wurde der junge Ahmet Zogu, der 1925 Präsident und 1928 König Albaniens werden sollte. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges blieb Ahmet Zogu der einflussreichste und führende Politiker Albaniens.
Die Nachwirkung des Kongresses von Lushnja
Der Kongress sollte eine nachhaltige Wirkung für die zukünftige Entwicklung Albaniens entfalten. Zum Zeitpunkt des Kongresses hielten sich die Besatzungsmächte in Albanien aus nicht geklärten Gründen besonders zurück, so dass dieser ungestört stattfinden konnte. Die neue Regierung Albaniens wurde innerhalb kürzester Zeit von fast der ganzen Bevölkerung Albaniens anerkannt und unterstützt. Sie füllte damit ein bestehendes Machtvakuum aus, das die Besatzungs- und europäischen Großmächte bisher für ihre eigenen Interessen in Albanien ausgenutzt hatten und nun nicht mehr ausnutzen konnten. Im Innern schaffte die Regierung mehr Stabilität und außenpolitisch konnte sie eine Anerkennung Albaniens erreichen. Sowohl durch Verhandlungen als auch durch bewaffnete Kämpfe erreichte Albanien einen Abzug der Besatzungsmächte und wurde am 17. Dezember 1920 vorbehaltlich der Regelung endgültiger Grenzfragen in den Völkerbund aufgenommen. Die endgültigen Grenzen Albaniens wurden auf einer Botschafterkonferenz in London im November 1921 festgelegt, wobei die Grenzregelungen von 1913 zugrunde gelegt wurden. In diesen Grenzen besteht Albanien auch heute noch fort. Neben der formellen Proklamation des Staates Albanien am 28.11.1912 kann der Kongress von Lushnja vom 28.01. bis zum 31.01.1920 als die Geburtsstunde des heutigen albanischen Staates, in seinen heutigen Grenzen, angesehen werden.