von Andreas Schwarz
Die Idee einer staatlichen Gemeinschaft der südslawischen Völker begründete auch die jugoslawische Frage. Diese Frage betrifft die Verhältnisse der einzelnen südslawischen Völker zueinander und zu dieser staatlichen Gemeinschaft. Damit betrifft sie sowohl ethnisch-nationale als auch staatsorganisatorische Aspekte. Mit ihr verflochten sind auch die albanische, die bosnische, die kroatische, die serbische und die makedonische Frage.
In der Abhandlung „Die jugoslawische Frage“ wird sehr ausführlich auf diese Thematik eingegangen. Ausführlich beschrieben wird dabei auch die (Vor-) Geschichte und die Entwicklung des jugoslawischen Staatswesens und von dessen Nachfolgestaaten. Zusätzlich erfolgt eine ausführliche Darstellung der jugoslawischen Frage und zu deren Hintergründen.
Die südslawischen Völker
Im 6. und 7. Jahrhundert wanderten slawische Stämme auf den Balkan ein. Die illyrischen und thrakischen Ureinwohner wurden von den Slawen überlagert und aufgesaugt. Die griechischen und römischen Bevölkerungen konnten sich nur in städtischen Siedlungen halten, am längsten in den am Meer gelegenen. Der genaue Prozess der Landnahme auf dem Balkan durch die Slawen ist noch immer Gegenstand der Forschung und von wissenschaftlichen Diskussionen.
Die Frage nach der Art und Ausdifferenzierung der einzelnen slawischen Stämme ist ebenfalls nicht geklärt. Als erste Ausdifferenzierungen traten Bulgaren, Kroaten und Serben auf. Umstritten ist aber ab wann diese stattfanden: Bereits vor der Einwanderung der Slawen auf dem Balkan oder erst danach. Solche Fragen werden zum Teil auch in der Wissenschaft unter nationalen und politischen Gesichtspunkten diskutiert. Eine abschließende Antwort darauf gibt es nicht. Erstmals erwähnt wurden die Kroaten und Serben als unterschiedliche Gruppen im 10. Jahrhundert von dem byzantinischen Kaiser Konstantin VII.
Worin sich die einzelnen Slawen in ihrer Anfangszeit auf dem Balkan unterschieden haben, ist ebenfalls Gegenstand der Forschung und noch nicht abschließend geklärt. Ethnisch dürften sich die slawischen Stämme in jener Zeit noch nicht unterschieden haben. Sprachlich haben sie sich wohl nur aufgrund ihrer unterschiedlichen Dialekte unterschieden. Ihrer Religion nach waren die Slawen anfangs noch Heiden. Ihre Christianisierung erfolgte erst später und unter verschiedenen Rahmenbedingungen. In ihrer politisch-gesellschaftlichen Organisation waren alle slawischen Stämme zunächst absolut gleich. Sie bildeten Stammeseinheiten, welche sich zeitweise zu Stammesverbänden zusammenfanden.
Die Teilung des Römischen Reiches in einen westlichen und einen östlichen Teil ab dem Jahr 395 führte zu unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen auf dem Balkan. Im weströmischen Teil blieb die ursprüngliche römisch-lateinische Tradition zunächst bestehen. Allerdings ging der weströmische Teil im 5. und 6. Jahrhundert unter. Im oströmischen Teil verdrängte die griechische Kultur und Sprache die ursprüngliche römisch-lateinische Kultur. Der oströmische Teil, welcher auch als Byzantinisches Reich bezeichnet wurde, hatte sein Zentrum in Konstantinopel und ging erst im Jahre 1453, aufgrund der Eroberung dieser Stadt durch die Osmanen, unter. Im Jahr 1054 führte ein Kirchenstreit zu einer Spaltung der christlichen Kirche in römisch-katholisch (Westkirche) und griechisch-orthodox (Ostkirche). Diese Kirchenspaltung besteht bis heute fort.
Insgesamt kam es so zu einer unterschiedlichen Entwicklung im Nordwesten und im Südosten des Balkans. Im Nordwesten leben bis heute die Kroaten und Slowenen, welche römisch-katholisch sind. Im Südosten leben die Bulgaren, ethnischen bzw. slawischen Makedonier, Montenegriner und Serben, welche Orthodox sind. Bosnien und Herzegowina bildet einen Übergangsbereich zwischen dem Nordwesten und den Südosten. Neben Kroaten und Serben leben dort auch muslimische Bosniaken.
Die südslawischen bzw. jugoslawischen Völker trennte über Jahrhunderte eine unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklung, was im Ergebnis auch zu verschiedenen Traditionen und Vorstellungen über den gemeinsamen Staat führte.
Die sogenannten Proto-Bulgaren waren ein turkmenisches Reitervolk und wanderten in die slawisch besiedelten Gebiete auf dem Balkan ein. Im Jahr 681 gründeten die Proto-Bulgaren das erste bulgarische Staatswesen. Die slawische Bevölkerung saugte die Proto-Bulgaren jedoch auf, so dass die Bulgaren südslawisch wurden. Die südslawischen Bulgaren übernahmen so auch das bulgarische Staatswesen. Während der byzantinischen Zeit gab es mehrere bulgarische Reiche, welche jedoch wieder untergingen. Nachdem durch den Fall Konstantinopels im Jahre 1453 das Byzantinische Reich verschwand, geriet Bulgarien rund 400 Jahre unter die Herrschaft der Osmanen. Erst ab dem Jahr 1878 wurde wieder ein unabhängiges bulgarisches Staatswesen geschaffen.
Die Serben konnten zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert zeitweise die byzantinische Herrschaft begrenzen oder ihre Unabhängigkeit durchsetzen. So gab es bereits zu dieser Zeit verschiedene serbische Staatswesen, welche dann wieder untergingen. Höhepunkt war das serbische Reich unter Stephan Dušan von 1331 bis 1355, welches zeitweise ganz Albanien, Epirus, Makedonien und Thessalien umfasste. Zum Ende des 14. Jahrhunderts geriet Serbien unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Zum Einflussgebiet der Serben jener Zeit gehörte auch Montenegro. Bis zur Anerkennung einer eigenständigen montenegrinischen Nation im Rahmen der kommunistisch-jugoslawischen Föderation im Jahre 1943 wurden die Montenegriner den Serben zugerechnet. Die Montenegriner sahen sich bis dahin auch selbst überwiegend als Teil der serbischen Kultur an. Der nationale Identitätsbildungsprozess der Montenegriner fand vor allem im Rahmen der jugoslawischen Föderation (1943 – 1992 bzw. 1992 – 2006) und danach statt.
Die Serben, Montenegriner und ethnischen bzw. slawischen Makedonier standen fast 500 Jahre unter osmanischer Herrschaft oder zumindest unter osmanischem Einfluss. Die ethnischen bzw. slawischen Makedonier waren zu dieser Zeit nicht als eigenes Volk anerkannt. Ihre nationale Zugehörigkeit war zwischen Bulgaren, Griechen und Serben umstritten. Im Gegensatz zu Serbien konnte Montenegro aufgrund seiner Lage eine relative Eigenständigkeit im Rahmen des Osmanischen Reich wahren. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangten Serbien und Montenegro zunehmend ihre Unabhängigkeit von Osmanischen Reich, welche dann im Jahr 1878 offiziell anerkannt wurde. Die osmanische Herrschaft in Makedonien wurde erst durch den Ersten Balkankrieg im Jahr 1912 beendet. Die Region Makedonien wurde dann zwischen Bulgarien, Griechenland und Serbien aufgeteilt. Die ethnischen bzw. slawischen Makedonier wurden erst ab dem Jahr 1943 im Rahmen der kommunistisch-jugoslawischen Föderation als eigenständige jugoslawische Nation anerkannt. Auch im Falle dieser Ethnie fand der nationale Identitätsbildungsprozess im Rahmen dieser Föderation statt und ist heute abgeschlossen.
Die Slowenen und Kroaten standen in ihrer überwiegenden Mehrheit nie unter osmanischer Oberhoheit, sondern waren in Österreich und Ungarn mit einbezogen und mitteleuropäisch geprägt. Kroatien war zwischen 925 und 1102 ein Königreich. Ab dem Jahr 1102 geriet es in eine Personalunion mit Ungarn und war bis zum Ende des Kaiserreiches Österreich-Ungarn im Jahre 1918 bis auf Dalmatien Bestandteil des Königreiches Ungarn. Dalmatien gehörte ebenso wie Slowenien zu Österreich. Die Slowenen hatten bis 1945 nie einen eigenen Staat, konnten jedoch über die Jahrhunderte ihre kulturelle Geschlossenheit wahren. Das Königreich Serbien wurde im Jahre 1882 proklamiert, die südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns mit Slowenien und Kroatien wurden erst 1918 unabhängig. Allerdings bildeten weder die Kroaten, noch die Serben absolut geschlossene Siedlungsgebiete, so dass es auch innerhalb dieser Völker kulturelle Unterschiede gibt.
Bosnien und Herzegowina nimmt eine Zwischenstellung ein. Zunächst war es unter osmanischer Herrschaft, dann kam es unter die Hoheit von Österreich-Ungarn. Dort leben Muslime (Bosniaken), Kroaten und Serben. Die Muslime hatten im Laufe der Geschichte ein eigenes Nationalbewusstsein entwickelt. Als eigene Ethnie wurde sie erst im Jahre 1968 im Rahmen der „Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawien“ anerkannt. Zuvor wurden sie den Kroaten oder Serben zugerechnet.
Des Weiteren leben in den Siedlungsgebieten der südslawischen Völker auch bedeutende Anteile an nicht-slawischen Nationalitäten. Als Beispiele hierfür seien die Albaner, Rumänen und Ungarn erwähnt.
Die jugoslawische Idee
Die Idee einer staatlichen Gemeinschaft aller südslawischen Völker kam in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und entstand im aufkeimenden Nationalismus dieser Völker. Als südslawische Völker anerkannt waren die Bulgaren, die Kroaten, die Serben und die Slowenen. Die Montenegriner wurden zu dieser Zeit oft den Serben zugerechnet, auch wenn sie ihr eigenes Staatswesen hatten und gegenüber den Serben vielfach eigene Wege gingen. Die Bosniaken und die ethnischen bzw. slawischen Makedonier waren im 19. Jahrhundert noch nicht als eigenständige südslawische Völker anerkannt.
Die Bewegung für die Umsetzung der Idee eines gemeinsamen südslawischen Staates ging zunächst von den Kroaten, Serben und Slowenen im Kaiserreich Österreich (ab 1867 Kaiserreich Österreich-Ungarn) aus. Am stärksten engagierten sich in jener Zeit die Kroaten für diese Idee, im geringerem Maße auch die Serben in Dalmatien und die Slowenen. Diese Bewegung wurde zunächst als „illyrisch“ bezeichnet, nach den Illyrern, welche den Balkan ursprünglich vor Ankunft der slawischen Stämme bevölkerten. Diese staatliche Gemeinschaft sollte alle südslawischen Völker umfassen, also auch die Bulgaren. Getragen wurde die Bewegung von Ljudevit Gaj, einem Förderer des modernen kroatischen Nationalbewusstseins. Nach seiner Auffassung waren die Illyrer der gemeinsame Ursprung der südslawischen Völker gewesen. Dementsprechend könnten diese südslawischen Völker aufgrund ihrer gemeinsamen Wurzeln auch wieder zu einem Volk zusammengeführt werden. Die von Gaj getragene illyrische Bewegung fand allerdings bei den Bulgaren, Serben und Slowenen keine große Zustimmung und lief daher ins Leere.
In den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ging von den südslawischen Völkern in Österreich-Ungarn eine neue Bewegung für einen gemeinsamen südslawischen Staat aus. Der Begriff „illyrisch“ wurden durch „jugoslawisch“ ersetzt, was übersetzt „südslawisch“ bedeutet. Dementsprechend bedeutet „Jugoslawien“ auch „Südslawien“. Der Hauptträger dieser Bewegung war der katholische Bischof von Djakovo Josip Juraj Strossmayer. In seinem Programm von 1874 trat er für eine Vereinigung von Bulgaren, Kroaten, Serben und Slowenen in einer freien und unabhängigen nationalen südslawischen Staatengemeinschaft ein. Alle südslawischen Völker sollten in dieser staatlichen Gemeinschaft in jeder Hinsicht gleichberechtigt sein. Des Weiteren sollten die südslawischen Völker innerhalb der staatlichen Gemeinschaft über Länder verfügen, deren staatliche Selbstständigkeit und Selbstverwaltung als unverletzlich gelten sollten. Im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Staat der südslawischen Völker sprach Strossmayer bereits auch von einem jugoslawischen Volk, welches aus vier individuellen Ethnien mit unterschiedlicher nationaler Vergangenheit zusammengesetzt sein würde. Den Schwerpunkt eines gemeinsamen südslawischen Staatswesens sah er in Kroatien, in dessen zentraler Stadt Zagreb er im Jahre 1866 die „Jugoslawische Akademie der Wissenschaften und Künste“ gründete.
Serbien wurde im Jahre 1817 zunächst als Fürstentum vom Osmanischen Reich zunehmend unabhängig. Im Jahre 1882 wurde es dann zum Königreich Serbien. In Serbien, welches im Gegensatz zu den südslawischen Gebieten im Reich von Österreich und Ungarn bereits unabhängig war, gab es ein anderes Verständnis für den „Jugoslawismus“. Dies galt zum Teil auch für die Einstellung der Serben in Dalmatien, in Kroatien und in der Vojvodina. Nach diesem Verständnis sollte Serbien den Schwerpunkt und das Zentrum für einen gemeinsamen Staat der südslawischen Völker bilden. Demnach sollte Serbien die Keimzelle für einen südslawischen Staat sein, welcher unabhängig von Österreich bzw. Österreich-Ungarn und von Russland sein sollte. Ein entsprechendes Programm für den serbisch geprägten Jugoslawismus wurde von dem damaligen serbischen Innenminister Ilija Garašanin in einem Dokument namens „Načertanje“ (Aufzeichnung) formuliert. Dieses Dokument enthielt geheime Anweisungen für eine großserbische Propaganda in den noch unter österreichischer bzw. österreich-ungarischer und osmanischer Herrschaft stehenden südslawischen Siedlungsgebieten. Demnach sollte um Serbien herum ein südslawischer Staat gebildet werden, welcher Bosnien und Herzegowina, Dalmatien, Montenegro und Nord-Albanien miteingeschlossen hätte. Die katholischen Kroaten sollten ebenfalls für diesen gemeinsamen südslawischen Staat mit Zentrum in Serbien gewonnen werden. Das Konzept dieses Staates sollte auf den Ideen von einem Volk und einer Sprache des serbischen Sprachreformers Vuk Karadžić beruhen.
Garašanin ging über die ideologische Begründung des groß-serbischen Jugoslawismus hinaus, indem er mit Unterstützung vom serbischen Fürst Alexander Karadjordjević eine organisatorische Basis für diese serbisch-jugoslawischen Ambitionen schuf. Dazu gehörte der Aufbau einer Geheimorganisation mit einem weit verzweigten Agentennetz, welches den ganzen Balkan umfasste. Später wurde erkannt, dass sich die Bauernaufstände im Osmanischen Reich gut für die großserbischen Ziele instrumentalisieren ließen. Das Dokument Načertanje wurde aus diesem Grunde durch eine „Anleitung zum Guerillakrieg“ erweitert.
In den Jahren 1866/67 kam es auch zu persönlichen Kontakten zwischen dem Kroaten Strossmayer und dem Serben Garašanin. Ziel war die Verabredung von gemeinsamen Maßnahmen zur Schaffung eines von Österreich und dem Osmanischen Reiches unabhängigen gemeinsamen jugoslawischen Staates. Für die Praxis hatten diese Treffen keine Bedeutung. Beim Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn im Jahre 1867 wurde das bisherige Kaiserreich Österreich in einen österreichischen und in einen ungarischen Reichsteil gegliedert. Die südslawischen Völker dieses Reiches strebten einen dritten südslawischen Reichsteil an, wurden jedoch enttäuscht. Selbst diese Entwicklung führte zu keiner gemeinsamen jugoslawischen Bewegung. Das Misstrauen zwischen den Kroaten und den Serben blieb zu groß. Nach Auffassung der Kroaten, welche auch von Strossmayer geteilt wurde, sei Serbien ein unterentwickeltes Land. Daher eigne es sich auch nicht als Zentrum für eine jugoslawische Bewegung und eines südslawischen Staates. Die serbische Seite sprach den Kroaten das Recht ab für die südslawischen Völker in Österreich-Ungarn zu handeln. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde ein kroatisch-serbischen Gegensatz deutlich, welcher auch den späteren ersten jugoslawischen Staat von 1918 bis 1941 prägen sollte. Dieser Gegensatz war unterschwellig auch in der kommunistisch-jugoslawischen Föderation von 1943 bis 1991/92 vorhanden und sollte in der Endphase dieser Föderation wieder an die Oberfläche kommen.
Die Bulgaren beteiligten sich nicht an der jugoslawischen Idee. Im Zweiten Balkankrieg (1913) sowie in den beiden Weltkriegen (1914 – 1918, 1941 – 1945) waren Bulgarien und Serbien bzw. Jugoslawien Gegner. Hauptstreitpunkt war die Region Makedonien, von der Serbien und Griechenland im Ersten Balkankrieg (1912/13) gegenüber Bulgarien wesentlich größere Anteile bekommen hatten. Auch zwischen den beiden Weltkriegen war das Verhältnis zwischen Bulgarien und dem ersten jugoslawischen Staat sehr angespannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Bulgarien und in Jugoslawien die kommunistischen Bewegungen an die Macht gekommen. Im Jahr 1948 wurde von Bulgarien und Jugoslawien eine Föderation angestrebt. Den jugoslawischen Vorschlag, als siebte Republik, auf einer Stufe gestellt mit Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Makedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien, beizutreten, lehnte Bulgarien mit Verweis auf seine lange eigenstaatliche Tradition ab. Stattdessen schlug es eine Föderation aus Bulgarien und Jugoslawien vor, welche dann angestrebt wurde. Bulgarien gehörte allerdings zum sowjetischen Einflussbereich und Jugoslawien war blockfrei. Die Sowjetunion brach im Jahre 1948 mit Jugoslawien, da Jugoslawien einen eigenständigen Weg im Kommunismus bzw. Sozialismus gehen wollte. Infolge kam es auch zum Bruch zwischen Bulgarien und Jugoslawien und damit erledigten sich auch die Pläne für eine Föderation.
Die nationalen Fragen der südslawischen Völker
Die unterschiedlichen historischen und kulturellen Entwicklungen der südslawischen Völker begründeten jeweils nationale Fragen, welche Auswirkungen auf die jugoslawische Frage haben. Sowohl vor Gründung als auch im Rahmen des jugoslawischen Staates sollten diese nationalen Fragen von großer Bedeutung für die Entwicklung der Gemeinschaft aus südslawischen und nicht-slawischen Völkern sein. Die nationalen Fragen und die von den jeweiligen Volksgruppen angestrebten nationalen Antworten führten zu massiven Interessengegensätzen. Diese konnten weder im Rahmen einer staatlichen Gemeinschaft noch im Rahmen von einzelnen Nationalstaaten vollkommen aufgelöst werden. Grundsätzlich strebte bzw. strebt jede jugoslawische Ethnie die Einheit oder Vereinigung in einen Nationalstaat an. Die Siedlungsgebiete der einzelnen Völker lassen sich jedoch nicht immer klar voneinander abgrenzen. In bestimmten Gebieten leben die südslawischen Ethnien sogar durchmischt und nicht jeweils für sich geschlossen. Hier ist eine nationalstaatliche Antwort gar nicht möglich.
Im Rahmen eines jugoslawischen Staates sollten die nationalen Fragen ihre Antworten finden. Der Versuch einer staatlichen Gemeinschaft scheiterte jedoch. Der erste jugoslawische Staat wurde am 01. Dezember 1918 als „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ proklamiert und am 03. Oktober 1929 in „Königreich Jugoslawien“ umbenannt. In diesem Staat setzten sich die zentralistisch eingestellten Serben gegenüber den föderalistisch gesinnten Kroaten und Slowenen durch. Für Serbien war Jugoslawien ein Vehikel für ein Großserbien bzw. ein ethnisches Serbien. Damit lies sich der angestrebte Traum von einer Vereinigung aller Serben in einem Staat erfüllen. Darüber hinaus dominierten die Serben mit ihrem Königshaus auch den Staat, welcher ab 1931 eine reine serbische Königsdiktatur war. Die Kroaten und Slowenen strebten von Anfang an die Gleichberechtigung der jugoslawischen Völker und die Machtteilung in einem föderalistisch organisierten Staat an. Des Weiteren gab es große Mentalitätsunterschiede zwischen den unterschiedlich kulturell, historisch und religiös geprägten Völkern. Der Nordwesten ist bis heute mitteleuropäisch und katholisch geprägt, der Südosten balkanisch und orthodox. Als Übergangsgebiet dazwischen befindet sich Bosnien und Herzegowina, mit einem Völkergemisch aus muslimischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben. Die mitteleuropäische Prägung im Nordwesten dürfte auf Österreich und Ungarn zurückgehen, die balkanische im Südosten auf die 400 bis 500-jährige Herrschaft des Osmanischen Reiches. Diese jahrhundertelangen separaten Entwicklungen der einzelnen Völker ließen entsprechend große kulturelle Unterschiede entstehen. Diese konnten nicht im Rahmen eines Staates in einen übergeordneten kulturellen Konsens überführt werden.
Der zweite jugoslawische Staat wurde ab dem Jahr 1943 als Föderation mit kommunistischer Einparteienherrschaft konstruiert. Proklamiert wurde dieser am 29. November 1945 als „Föderative Volksrepublik Jugoslawien“, welche im Jahre 1963 in „Sozialistisch Föderative Republik Jugoslawien“ („SFRJ“) umbenannt wurde. Im Rahmen des föderalistischen Systems sollten die nationalen Interessen der einzelnen Völker kanalisiert werden. Der Dominanz der Serben wurde begrenzt. Unter anderem wurden in Serbien zwei autonome Gebietseinheiten geschaffen, Kosovo und Vojvodina. Deren Autonomie wurde immer mehr ausgebaut, so dass sie spätestens ab dem Jahre 1974 faktisch die gleichen Rechte wie die einzelnen jugoslawischen Republiken hatten. Insgesamt wurde der Föderalismus durch zwei Verfassungsrevisionen in den Jahren 1963 und 1974 immer weiter ausgebaut. Immer mehr Kompetenzen wurden von der jugoslawischen Föderation auf ihre Teilstaaten übertragen und die Grenze zur Konföderation fast erreicht. Dennoch hatte auch dieser Versuch einer staatlichen Gemeinschaft der jugoslawischen Völker große Konstruktionsfehler: fehlende Demokratie und die Einparteienherrschaft durch den „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ („BdKJ“). Die nationalen Gegensätze der einzelnen südslawischen und nicht-slawischen Völker konnten auch in dem komplexen föderalistischen System nicht überwunden, sondern nur unterdrückt werden. Hinzu kamen auch unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen in den einzelnen Föderationssubjekten und die daraus resultierenden divergierenden Interessen der einzelnen Völker. Eine zunehmende Wirtschaftskrise führte dann in den 1980er Jahren zu einer schweren Systemkrise. Die ohnehin nicht beantworteten nationalen Fragen konnten so auch zunehmend nicht mehr unterdrückt werden und brachen offen aus. Die jugoslawische Föderation zerfiel 1991/92 in fünf Nachfolgestaaten: Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro), Bosnien und Herzegowina, Republik Kroatien, Republik Makedonien und Republik Slowenien. Die Bundesrepublik Jugoslawien wurde im Jahr 2003 zunächst in die Staatenunion Serbien-Montenegro umgewandelt, bevor aus ihr im Jahr 2006 – als unabhängige Staaten – die Republik Serbien und Montenegro hervorgingen. Im Jahr 2008 spaltete sich noch das Kosovo von Serbien ab, so dass auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens heute sieben Staaten bestehen.
Aufgrund des Zerfalls der jugoslawischen Föderation sind die nationalen Fragen wieder viel relevanter, da einige Völker nun staatsrechtlich getrennt auf mehrere Staaten verteilt sind. Auf Grund ihrer großen Bedeutung soll nachfolgend ausführlicher auf die serbische Frage eingegangen werden.
Die serbische Frage
Allgemein betrachtet, betrifft die serbische Frage das Schicksal des serbischen Volkes vor dem Hintergrund von Freiheitskämpfen und Kriegen. Nach dem Selbstverständnis der Serben soll das serbische Volk frei von Fremdbestimmung und als Nation vereint in einem Staatswesen zusammenleben können. Dieses Ziel konnte allerdings erst ab dem Jahr 1918 in einem gemeinsamen Staat mit anderen südslawischen Völkern erreicht werden. Dadurch bekam die serbische Frage dann auch ihre Konkretisierung. Jetzt umfasste diese das Verhältnis der Serben zu den anderen südslawischen Völkern, zur jugoslawischen Idee (gemeinsamer Staat für alle südslawischen Völker) und zu ihrer Stellung in der gesamtpolitischen Ordnung des Balkans.
Im ersten jugoslawischen Staat von 1918 bis 1941 dominierten die Serben, die ohnehin das zahlenmäßig stärkste Volk in diesem Staate waren, über die anderen südslawischen und nicht-slawischen Völker. In diesem ersten jugoslawischen Staat, der unter dem serbischen Königshaus diktatorisch regiert und zentralistisch verwaltet wurde, hatten die Serben die klare Vorherrschaft und die anderen Völker das Nachsehen. Im Zweiten Weltkrieg brach der erste jugoslawische Staat wegen der ethnischen bzw. nationalen Gegensätze auch von innen heraus auseinander.
Der zweite jugoslawische Staat wurde nach den Beschlüssen des II. Kongresses des „Antifaschistischen Rates der Nationalen Befreiung Jugoslawiens“ (AVNOJ) vom 29. November 1943 dann auch föderalistisch und unter Wahrung der Gleichberechtigung aller südslawischen Völker organisiert. Dominierend sollte jetzt vor allem die kommunistische Parteiorganisation sein. Allerdings führte die Neuorganisation des jugoslawischen Staates auch zu einer Neuformulierung der serbischen Frage, die vor allem in einem Memorandum der „Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ im Jahre 1986 ihren Ausdruck fand.
Nach diesem Memorandum sei den Serben im kommunistischen Jugoslawien unter Josip Broz Tito der eigene Staat im Wesentlichen versagt worden. Aufgrund der zwei „Sozialistisch Autonomen Gebietskörperschaften“ Kosovo und Vojvodina, die faktisch den Status einer jugoslawischen Republik hätten, sei die Staatlichkeit Serbiens beschnitten worden. Im Verhältnis zu den anderen fünf jugoslawischen „Sozialistischen Republiken“ sei Serbien also benachteiligt worden, da außer Serbien keine andere jugoslawische Republik autonome Gebietskörperschaften auf ihrem Territorium hätte. Große Teile des serbischen Volkes müssten in anderen (jugoslawischen) Republiken leben und würden dort nicht die gleichen Rechte wie andere Nationalitäten (nationale Minderheiten) haben. Vor allem Kroatien und das Kosovo wurden in dem Memorandum aufgeführt. In Kroatien und im Kosovo seien die Serben bedroht, unter anderem von Assimilierung und auch von einem möglichen Genozid. Dies würde die Einheit des serbischen Volkes gefährden. Auch wirtschaftlich sei Serbien gegenüber den jugoslawischen Republiken Kroatien und Slowenien gezielt benachteiligt worden. So habe es unter Tito eine kroatisch-slowenische Vorherrschaft in Jugoslawien gegeben. Die Serben hätten die größten Opfer im Zweiten Weltkrieg erbracht und würden im kommunistischen System allerdings in die Rolle eines „Kerkermeisters“ (sinngemäß: eines brutalen Unterdrückers) gedrängt, dem eine Schuld auferlegt worden sei. Es sei an der Zeit, das serbische Volk von der Hypothek dieser historischen Schuld zu befreien und den Beitrag des serbischen Volkes an dem Volksbefreiungskampf voll anzuerkennen. Auch zur staatlichen Organisation Jugoslawiens trifft das Memorandum Aussagen. Demnach müsste die jugoslawische Verfassung von 1974 revidiert und die Staatlichkeit Serbiens wiederhergestellt werden. Ansonsten drohe der Zerfall Jugoslawiens, wenn das serbische Volk weiterhin in Ungewissheit leben müsste. Diese Auszüge aus dem Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste gaben vor allem die Auffassungen der national gesinnten serbischen Kreise wieder. Bei den anderen Völkern Jugoslawiens löste diese Memorandum Kritik und Furcht vor dem serbischen Nationalismus aus.
Das Memorandum lässt sich in einer konkreteren Formulierung der heutigen serbischen Frage überführen: „Die heutige serbische Frage betrifft das Schicksal des serbischen Volkes in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo sowie die Einheit des serbischen Volkes.“ In Kroatien leben nach einer Volkszählung aus dem Jahr 2011 insgesamt 186.633 Serben, was einem Anteil von 4,36 Prozent an der kroatischen Gesamtbevölkerung entspricht. Sie sind somit nach den Kroaten die zweitstärkste Volksgruppe. In einigen Regionen Kroatiens ist ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung relativ hoch. Über eine besondere kulturelle Autonomie verfügten bzw. verfügen die Serben in Kroatien nicht. In Bosnien und Herzegowina leben nach einer Volkszählung aus dem Jahr 2013 1.167.320 Serben, was einem Anteil von 30,8 Prozent an der bosnisch-herzegowinischen Gesamtbevölkerung entspricht. Dort verfügen die Serben über die Entität „Republika Srpska“, einem autonomen Teilstaat, welcher Sonderbeziehungen zur Republik Serbien eingehen kann. Im Kosovo dürften je nach Quellen, die Datenlage ist unsicher, zwischen 30.000 und 100.000 Serben leben.
Die heutige serbische Frage führte zwischen 1991 und 1999 zu den Kriegen in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und im Kosovo. Das Kosovo hat zusätzlich zu der dort lebenden serbischen Minderheit vor allem auch eine historische Bedeutung für Serbien. Anders ist die Lage in den Republiken Slowenien und Nord-Makedonien, die von einem ethnisch bedingten Krieg mit Serbien verschont blieben. Der kurze Krieg in Slowenien (27.06. – 18.07.1991) war mehr eine slowenisch-jugoslawische als eine slowenisch-serbische Angelegenheit. Weder in Slowenien noch in der Republik Nord-Makedonien leben nennenswerte Anteile des serbischen Volkes, so dass sich dort die serbische Frage in ihrer heutigen Form nicht stellt. Im Ergebnis bleibt die serbische Frage bisher offen, da die Siedlungsgebiete der Serben staatsrechtlich getrennt über mehrere Staaten verteilt sind.
Die albanische Frage
Mit der Proklamation des albanischen Staates am 28. November 1912, während des Ersten Balkankrieges, entstand die albanische Frage. Zu dieser Zeit existierten bereits die Staaten Griechenland, Bulgarien, Serbien und Montenegro mit ihren Nationen. Der bis 1912 noch zum Osmanischen Reich gehörende Teil von Europa mit Makedonien wurde nach den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg größtenteils zwischen Griechenland, Serbien bzw. Jugoslawien und Bulgarien aufgeteilt. Für Albanien blieb ein Territorium übrig, das wesentlich kleiner war, als die albanischen Siedlungsgebiete es gewesen sind. So blieb ca. ein Drittel der albanischen Bevölkerung außerhalb Albaniens. Deren staatsrechtliches Schicksal begründet die albanische Frage, die noch bis heute fortbesteht. Der größte Teil der albanischen Siedlungsgebiete außerhalb Albaniens lag im nun zu Serbien gehörenden Kosovo.
Der Grund für die Situation Albaniens war die bereits oben beschriebene, relativ späte albanische Nationalbewegung. Im Osmanischen Reich waren die hauptsächlich muslimischen Albaner gut integriert und gehörten zum Teil auch zur osmanischen Elite. Der albanische Staat wurde von den europäischen Mächten am 29. Juli 1913 anerkannt. Die Grenzen Albaniens sind seitdem nicht wesentlich verändert worden, so dass zunächst etwa ein Drittel der Albaner im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenien bzw. dem Königreich Jugoslawien und in Griechenland lebten. Nur während des Zweiten Weltkrieges wurde unter italienischer und anschließender deutscher Herrschaft vorübergehend unter Einschluss der anderen albanischen Siedlungsgebiete ein Großalbanien bzw. ethnisches Albanien geschaffen, das zwischen 1941 und 1944 bestand. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten allerdings wieder die Vorkriegsgrenzen und die Kosovo-Frage bzw. die albanische Frage blieb bestehen.
Im Rahmen der kommunistisch-jugoslawischen Föderation bildete das Kosovo eine autonome Gebietskörperschaft. Mit der jugoslawischen Verfassungsrevision von 1974 bekam das Kosovo faktisch die gleichen Rechte wie eine jugoslawische Republik. In den Jahren 1989/90 hob Serbien die Autonomie im Kosovo in verfassungswidriger Weise auf und unterdrückte die albanische Mehrheitsbevölkerung zunehmend. Es kam Ende der 1990er Jahre zu einem ethnischen Krieg und zu einer Übernahme der Verwaltung des Kosovos durch die Vereinten Nationen. Am 17. Februar 2008 spaltete sich das Kosovo von Serbien ab.
Mit dem Kosovo besteht neben Albanien (rund drei Millionen Einwohner) faktisch ein zweiter albanischer Staat. Von den insgesamt zirka 1,8 Millionen Einwohnern des Kosovos sind 91 % bzw. 1,64 Millionen ethnische Albaner. Diese Zahlen beruhen auf einer Volkszählung aus dem Jahre 2011. Eine materielle Reintegration des Kosovo in den serbischen Staat ist unwahrscheinlich. Die Republik Nord-Makedonien verfügt mit 509.682 ethnischen Albanern nach Albanien und dem Kosovo über das drittgrößte albanische Siedlungsgebiet. Der dortige Anteil der Albaner an der makedonischen Gesamtbevölkerung beträgt 25,2 Prozent. Das Verhältnis zwischen ethnischen bzw. slawischen und albanischen Makedoniern ist nicht frei von Spannungen. Allerdings werden die Albaner an der makedonischen Staatsgewalt beteiligt und sie verfügen über weitgehende Rechte als ethnische Gemeinschaft in der Republik Nord-Makedonien. In den Staaten Griechenland, Serbien (ohne Kosovo) und Montenegro verfügte die albanische Volksgruppe nie über entsprechende Autonomierechte wie im Kosovo. In den albanischen Siedlungsgebieten Serbiens, Bujanovac, Preševo und Medvedja, leben etwa 80.000 ethnische Albaner. Das dortige Verhältnis zwischen Albanern und Serben gilt als entspannt. Es gibt die Idee, den von Serben bewohnten Nordteil des Kosovos mit diesem Gebiet zwischen Serbien und dem Kosovo auszutauschen. Bisher konnte sich diese Idee allerdings aus verschiedenen Gründen nicht durchsetzen. Das Verhältnis der etwa 50.000 ethnischen Albaner zu den Montenegrinern in Montenegro ist ebenfalls unkompliziert, zumal sie gut im montenegrinischen Staat integriert sind. Gleiches gilt für die zirka 50.000 orthodoxen Albaner im Nordwesten Griechenlands.
Die bosnische und die kroatische Frage / Andere nationale Fragen
In Bosnien und Herzegowina leben drei staatstragende jugoslawische Volksgruppen: Die Bosniaken bzw. ethnischen Muslime, die Kroaten und die Serben. Nach einer Volkszählung von Oktober 2013 bekennen sich von den 3,79 Millionen bosnisch-herzegowinischen Einwohnern 50,1 % zu der bosniakischen (muslimischen), 30,8 % zu der serbischen und 15,4 % zu der kroatischen Volksgruppe. Aufgrund des Krieges zwischen den bosnischen Volksgruppen von 1992 bis 1995 und des Abkommens von Dayton vom 14. Dezember 1995 ist Bosnien und Herzegowina staatsrechtlich zweigeteilt in eine bosniakisch-kroatische Entität („Föderation Bosnien und Herzegowina“) und in eine serbische Entität („Republika Srpska“), die durch eine Föderation miteinander verbunden sind. Durch diese Föderation der zwei Entitäten bleibt Bosnien und Herzegowina als Völkerrechtssubjekt erhalten.
In Bosnien und Herzegowina wird der staatsrechtliche Versuch unternommen, die gescheiterte Idee einer staatlichen Gemeinschaft der südslawischen Völker im Kleinen zu verwirklichen. Hintergrund ist, dass hier nationalstaatliche Lösungen aufgrund der Durchmischung der Volksgruppen im Prinzip nicht möglich sind. Die Bosniaken haben keinen weiteren Nationalstaat auf dem Balkan, daher identifizieren sie sich am Stärksten mit Bosnien und Herzegowina und möchten diesen Staat bewahren. Die bosnischen Serben lehnen das Staatskonzept von Bosnien und Herzegowina ab und möchten sich mit ihrer Republika Srpska, in der natürlich auch andere Völker leben, der Republik Serbien anschließen. Die Kroaten nehmen eine Position zwischen diesen Extremen ein. Allerdings wäre auch für sie das Aufgehen in die Republik Kroatien eine Option.
Durch einen extrem komplizierten Föderalismus sollen die nationalen Fragen bzw. Interessen der einzelnen Volksgruppen kanalisiert werden. Wie oben beschrieben, besteht Bosnien und Herzegowina aus zwei Entitäten mit einem hohen Grad an Autonomie, während der bosnisch-herzegowinische Zentralstaat entsprechend schwach ausgeprägt ist. Die Entität „Föderation Bosnien und Herzegowina“ besteht ihrerseits aus zehn Kantonen. Allerdings sind die Gegensätze der bosnischen Volksgruppen so groß, dass der Staat nur mit Druck von Außen zusammengehalten werden kann. Eine übergeordnete bosnisch-herzegowinische Identität oder auch nur ein übergeordnetes Gemeinschaftsgefühl hat sich überhaupt nicht entwickelt. Im Ergebnis funktioniert der Staat Bosnien und Herzegowina mit seiner derzeitigen Struktur nicht und ist gescheitert. Allerdings ist eine nationalstaatliche Aufteilung oder ein Anschluss von bosnisch-herzegowinischen Territorien an die Staaten Kroatien und Serbien nach ethnischen Gesichtspunkten aufgrund der Durchmischung der einzelnen Volksgruppen nicht durchführbar.
Die kroatische Frage hat einen direkten Bezug zur bosnischen Frage, da in Bosnien und Herzegowina 583.660 bosnische Kroaten leben. Auch in Kroatien gab und gibt es Bestrebungen alle Kroaten im Rahmen eines Nationalstaates zu vereinen. Dieses Ziel wurde zeitweise während der Kriege auf dem Balkan von 1991 bis 1995 auch verfolgt.
Im Falle der ethnischen bzw. slawischen Makedonier, Montenegriner und Slowenen bestehen nationale Fragen in dieser Größenordnung nicht, da diese Volksgruppen relativ geschlossen in den Grenzen ihrer jeweiligen Staaten leben. Hier geht es höchstens um den Status dieser Volksgruppen als ethnische Minderheiten in den jeweils angrenzenden Staaten. Die makedonische Frage hatte hingegen einen anderen Hintergrund. Hier ging es zunächst um das Schicksal der makedonischen Bevölkerung im Osmanischen Reich. Des Weiteren ging und geht es um die Kulturhoheit über Makedonien, über die zunächst Bulgarien, Griechenland und Serbien stritten. Anstelle der serbischen Partei trat ab dem Jahr 1943 eine eigenständige makedonische Partei. Im Ergebnis betrifft die makedonische Frage heute die Frage nach der kulturellen Identität der Bevölkerung in Makedonien. Hier kam es in den Jahren 2017 und 2018 zu einer Verständigung zwischen Bulgarien, Griechenland und der Republik Makedonien bzw. Republik Nord-Makedonien.
Das Scheitern der staatlichen Gemeinschaft der Südslawen
Der erste jugoslawische Staat als Königreich von 1918 bis 1941 ist ebenso gescheitert, wie der zweite jugoslawische Staat als Föderation unter kommunistischer Einparteienherrschaft von 1945 bis 1991/92. Im ersten Fall war der Angriff der Deutschen Wehrmacht auf das Königreich Jugoslawien im April 1941 der äußere Anlass für den Zerfall des Staates. Allerdings war dies nur die Initialzündung. Eigentlich zerfiel das Königreich von Innen heraus. Ein übergeordnetes jugoslawisches Gemeinschaftsgefühl hatte sich nicht herausgebildet. Jedes der jugoslawischen Völker identifizierte sich in erster Linie mit der eigenen Nation und sah sich nicht mit den anderen im Rahmen einer gesamtjugoslawischen Identität verbunden. Entsprechend gering war die Bereitschaft, das Königreich Jugoslawien zu bewahren und zu verteidigen.
Der Zerfall des zweiten jugoslawischen Staates, der „Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawien“ („SFRJ“), hatte keinen äußeren Anlass. Dieser Staat zerfiel ausschließlich von Innen heraus und der ganze Zerfallsprozess war daher eine reine Selbstzerstörung. Anfangs versuchte die Internationale Gemeinschaft durch äußeren Druck die jugoslawische Föderation in reformierter Form zu erhalten. Trotzdem konnte die Desintegration nicht aufgehalten werden. Später musste auch die internationale Gemeinschaft die Auflösung der jugoslawischen Föderation und ihre Nachfolgestaaten anerkennen.
Die Gründe für das Scheitern einer staatlichen Gemeinschaft der südslawischen Völker sind sehr komplex und vielseitig. Es gibt keine einfachen Antworten auf die jugoslawische Frage. Viele Fragen sind auch noch offen und bleiben derzeit Gegenstand der Forschung. Im Grundsatz ließen sich die Gegensätze zwischen den südslawischen Völkern weder in einer zentralistisch organisierten serbischen Königsdiktatur, noch in einer föderal organisierten kommunistischen Einparteienherrschaft auflösen. In beiden Fällen wurden diese Gegensätze nur unterdrückt und konnten offen ausbrechen, als das staatliche System aufgrund einer schweren Krise geschwächt war. Die Gegensätze waren unter anderem von kultureller, geschichtlicher, religiöser, politischer und wirtschaftlicher Natur. Das sind viele Faktoren, welche die jugoslawische Frage beeinflussten und auf die keine gesamt-jugoslawischen Antworten gegeben werden konnten.
Weder im ersten noch im zweiten jugoslawischen Staat konnte sich eine demokratische Kultur entwickeln. Eine daraus resultierende Toleranz mit gegenseitiger Rücksicht auf die Interessen der jeweils anderen Völker und die Bereitschaft, ihre Rechte zu achten, hatte sich so nicht entwickeln können. Die jeweils anderen wurden im Extremfall zu Feinden erklärt. Andersdenkende und politische Gegner wurden massiv bekämpft. Daher ist nachvollziehbar, dass nationale Gegensätze nicht durch einen Dialog, sondern durch einen Krieg auf Kosten der jeweils anderen Volksgruppe überwunden werden sollten. Die jugoslawischen Völker haben einen unterschiedlichen kulturellen und geschichtlichen Kontext. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Bewertungen und Erinnerungen an die vielen Kriege auf dem Balkan. Dies prägt den Balkan bis heute.
Im Falle der SFRJ führten die zunächst unterdrückten und dann offen ausgebrochenen gesellschaftspolitischen Spannungen beim Übergang von der kommunistischen Einparteienherrschaft zu einem demokratisch-pluralistischen und marktwirtschaftlichen System zu nationalen Spannungen zwischen den einzelnen südslawischen Völkern und ihren Teilrepubliken. Die demokratischen und reformistischen Bestrebungen gingen ausschließlich von den einzelnen jugoslawischen Völkern und ihren Teilrepubliken aus. Eine gesamt-jugoslawische Demokratie- und Reformbewegung, welche als Klammer hätten wirken können, hatte sich nicht gebildet. Ein jugoslawisches Gemeinschaftsgefühl hatte sich auch in der kommunistisch-jugoslawischen Föderation nicht herausgebildet bzw. war höchstens schwach vorhanden. Ein solches wurde von den kommunistischen Machthabern auch nicht gefördert. Neben der Integrationsfigur Josip Broz Tito, welcher am 04. Mai 1980 starb, sollte der „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ („BdKJ“) die staatliche Gemeinschaft der jugoslawischen Völker als übergeordnete Institution und Klammer zusammenhalten. Eine gesamt-jugoslawische Bewegung hätte aus Sicht der Machthaber in Konkurrenz zum BdKJ treten können und dies sollte natürlich verhindert werden. Als der BdKJ im Jahr 1990 aufgrund der nationalen Gegensätze zerfiel, war ein wichtiger Integrationsfaktor für den jugoslawischen Staat weg. Eine alternative Integrationsbewegung war nicht vorhanden. Damit war der Weg für die einzelnen nationalen Bewegungen frei, deren zentrifugalen Kräfte den gemeinsamen Staat letztendlich sprengten.
Ein besonderer Gegensatz soll hier noch einmal hervorgehoben werden: der kroatisch-serbische.
Hierbei traten die Slowenen auf Seiten der Kroaten und die Montenegriner auf Seiten der Serben. Die kroatisch-slowenische Seite war für die uneingeschränkte Gleichberechtigung der jugoslawischen Völker sowie für eine Machtteilung in einem dezentralen und föderalistischen Staat. Die Serben wollten hingen einen zentralistischen Staat, welchen sie im Sinne einer großserbischen Ideologie auf Kosten der anderen jugoslawischen Völker dominieren wollten. Dies konnten die Serben im ersten jugoslawischen Staat (1918 – 1941) auch durchsetzen. Als es 1990/1991 um eine Reform der jugoslawischen Föderation (1945 – 1991/92) ging, kam genau dieser Gegensatz wieder zum tragen. Die Kroaten und Slowenen wollten den jugoslawischen Staat noch stärker föderalisieren, die Serben und Montenegriner wollten diesen stärker zentralisieren. Auch bezüglich der demokratischen und wirtschaftlichen Ordnung gab es divergierende Interessen. Im Ergebnis strebten die Serben wieder eine dominierende Stellung an. Dies konnte in einem gemeinsamen Staat nicht mehr aufgelöst werden. Die Bosniaken und die ethnischen bzw. slawischen Makedonier nahmen vermittelnde Positionen zwischen diesen Extremen ein, konnte jedoch auch keinen Kompromiss mehr herbeiführen. Im Ergebnis war der jugoslawische Staat damit endgültig gescheitert und die jugoslawische Idee somit auch.
Das Konzept einer staatlichen Gemeinschaft der südslawischen Völker hat sich zweimal nicht als tragfähig erwiesen und ist daher gescheitert. Damit war auch das Konzept der Siegermächte von zwei Weltkriegen gescheitert, eine tragfähige Ordnung auf dem Balkan zu etablieren. Die Idee einer staatlichen Gemeinschaft der südslawischen Völker war nicht falsch, allerdings deren staatspolitische Umsetzung. In beiden Fällen konnten die Gegensätze der südslawischen Völker aufgrund der inneren Struktur ihres gemeinsamen Staates nicht überwunden werden, was im Ergebnis zum Scheitern der jugoslawischen Idee führen musste. Beide jugoslawische Staaten basierten auf einer Hegemonie. zunächst auf einer national-serbischen, dann auf einer ideologisch-kommunistischen.
Die jugoslawische Frage heute
Anstelle der staatlichen Gemeinschaft der südslawischen Völker sind sieben Staaten getreten. Die nationalen Fragen der südslawischen und der nicht-slawischen Völker auf dem Balkan sind damit nach wie vor weitgehend offen und müssen beantwortet werden. Die jugoslawische Idee dürfte als Konzept überwunden sein. Allerdings gilt dies auch für das Konzept der Nationalstaaten. Keine der nationalen Fragen kann im Rahmen eines Nationalstaates ihre Antwort finden. Jeder derartige Beantwortungsversuch könnte in vielen Fällen nur auf Kosten eines anderen Volkes bzw. mehrerer anderer Völker erfolgen. Damit bliebe das Problem bestehen. Dennoch bleibt der Traum der einzelnen Völker nach Einheit unter einem gemeinsamen Dach existent.
Die jugoslawische Frage muss also beantwortet werden. Im Rahmen von Nationalstaaten können die südslawischen und die anderen Völker ihren Traum von Einheit und Vereinigung nicht verwirklichen. Dennoch gibt es einen alternativen Weg: Im Rahmen der Europäischen Union (EU) können alle Völker ihren Traum von Einheit unter einem Dach verwirklichen. Innerhalb der EU verlieren staatliche Grenzen ihre Bedeutung und es könnten europäische Kulturregionen gebildet werden. Die Albaner, Bosniaken, Kroaten und Serben können ihren jahrhundertealten Traum nach Einheit unter einem Dach im Rahmen der EU effektiv verwirklichen, ohne dies auf Kosten der jeweils anderen Volksgruppen verwirklichen zu müssen. Daher ist die Integration der Balkanstaaten in die EU sehr wichtig, um eine nachhaltige friedenserhaltende Ordnung auf dem Balkan zu etablieren. Diese wird eine prosperierende Entwicklung der betroffenen Völker ermöglichen, welche zu zusätzlicher Stabilität auf dem Balkan führen wird. Bulgarien, Kroatien und Slowenen sind bereits Mitglieder der EU, die anderen Staaten auf dem Balkan werden eines Tages folgen. Damit wären alle südslawischen Völker unter einem Dach vereint und ohne das Grenzen sie trennen. Verbunden wären sie durch gemeinsame Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gut nachbarschaftliche Beziehungen. Im Rahmen von europäischen Kulturregionen können die südslawischen Völker wieder auf Basis ihrer gemeinsamen kulturellen Wurzeln und als gleichberechtigte Partner zusammenfinden. Die jugoslawische Frage ist also nach wie vor aktuell. Allerdings wird sie nicht national, sondern nur europäisch final beantwortet werden können.
Informationen
Nachfolgend eine ausführliche Abhandlung zum Thema: „Die jugoslawische Frage“