Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft
Tilman Zülch aus pogrom – bedrohte völker Heft 2 / 2001
Quelle: GFBV.de
Wie die meisten Balkanstaaten hat sich Griechenland seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich in Jahrzehnten blutiger Auseinandersetzungen erkämpft. Erst 1826 konnte das südliche Griechenland seine Unabhängigkeit erklären. 600 Jahre lang war das griechische Siedlungsgebiet von Istanbul aus beherrscht worden. Noch heute spricht man in Griechenland, Bulgarien oder Serbien mit Ranküne vom „Osmanischen Joch“ – und verdrängt damit auch die großen Errungenschaften osmanischer Kultur und viele Jahrzehnte guten oder erträglichen Zusammenlebens von Muslimen und Christen.
Anfang des 20. Jahrhunderts bewohnten die Griechen alle Küsten der Ägäis und des Schwarzen Meeres bis nach Trapezunt im Osten (heute Türkei) und nach Burgas im Norden (heute Bulgarien). Erst im Balkankrieg 1912/13 eroberten griechische Truppen den südlichen Epirus, Südmazedonien und Westthrakien. Griechen bildeten dort nur Minderheiten innerhalb der Bevölkerung. Weite Teile dieser Regionen waren von christlichen Bulgaren, Pomaken (bulgarischsprachigen Muslimen) und Aromunen, von Albanern christlichen und muslimischen Glaubens, von Türken und von muslimischen Roma bewohnt. In vorangegangenen Jahrhunderten hatten Albaner Regionen Südgriechenlands bis hinunter zum Peloponnes und sogar einzelne griechische Inseln besiedelt und den griechisch-orthodoxen Glauben angenommen. Viele dieser gräzisierten christlichen Albaner nahmen an den griechischen Unabhängigkeitskämpfen teil. Letzte Reste dieser Bevölkerungsgruppe bezeichnen sich heute als Arvaniten und treten für Förderung und Anerkennung ihrer Kultur ein.
1922 versuchte Griechenland, die Siedlungsgebiete an der östlichen Ägäisküste, in Ostthrakien und Konstantinopel an sich zu reißen. Mit Zustimmung Englands und Frankreichs marschierten griechische Truppen Richtung Ankara und wurden vor der türkischen Hauptstadt von Kemal Atatürk vernichtend geschlagen, nachdem die Alliierten ihre Waffenlieferungen eingestellt hatten. Die griechischen Siedlungsgebiete in Ionien und Ostthrakien wurden von türkischen Truppen erobert. Hunderttausende, überwiegend Zivilisten, verloren ihr Leben. Im Vertrag von Lausanne wurde – auch durch britischen Druck – die Vertreibung von 1,5 Millionen Griechisch-Orthodoxen aus der Türkei sanktioniert. Sie wurden in Nordgriechenland angesiedelt. Gleichzeitig mussten über 500.000 Muslime – unter ihnen Türken, Albaner, Pomaken und Roma – Nordgriechenland verlassen. Die Schrecken von Flucht, Vertreibung und Völkermord werden seither als beispielhafter „Bevölkerungsaustausch“ umschrieben. Nur die muslimischen Minderheiten Westthrakiens wurden, geschützt durch ein Sonderstatut, ebenso von der Umsiedlung ausgenommen wie 250.000 Griechen in Konstantinopel/Istanbul und auf den Inseln Imbros und Tenedos.
Mit dem unseligen Mittel des Bevölkerungsaustauschs förderten ebenfalls in den 20er Jahren auch bulgarische und griechische Politiker die weitere Homogenisierung ihrer Länder. Die griechische Bevölkerung musste die Südküste Bulgariens verlassen, slawische Mazedonier wurden von Griechisch Mazedonien nach Bulgarien umgesiedelt. Während des griechischen Bürgerkrieges 1945-48 mussten weitere Zehntausende Slawomazedonier Griechenland verlassen und wurden auf die kommunistischen Staaten Osteuropas verteilt. Bis heute dürfen die meisten von ihnen nicht in ihre Heimat zurückkehren. Die damals im Land Zurückgebliebenen und ihre Nachfahren sind seither nur noch eine kleine Minderheit.
Während der Befreiungskämpfe der Völker des südlichen Balkans gegen die Türken hatte sich die große Mehrheit der Slawomazedonier an Bulgarien orientiert. Die mazedonischen Dialekte galten als Teil des Bulgarischen bis Tito-Jugoslawien 1944 eine eigene mazedonische Hochsprache schuf. Seither wurde Alexander der Große, der fast ein Jahrtausend vor der slawischen Besiedlung des Balkan Mazedonien beherrschte, eine Art mythischer Begründer Mazedoniens. Als es der südlichsten Republik des alten Jugoslawien gelang ohne kriegerische Auseinandersetzung mit Belgrad die Unabhängigkeit zu erlangen, nahm der neue Staat Mazedonien das antike mazedonische Sonnensymbol in seine Flagge auf.
Jetzt wirkten die Nationalitätenkämpfe in Nordgriechenland nach. Es waren wohl die größten Massendemonstrationen in Griechenland seit Ende des Zweiten Weltkrieges, als 1994 fast zwei Millionen Griechen mit antimazedonischen Parolen durch Athen und Saloniki marschierten. Griechenland gelang es, eine internationale Diskussion zu entfachen, Skopje zu erpressen und die europäischen Institutionen in Sachen Mazedonien zu paralysieren. Bis heute erleben viele Griechen Affekte des Chauvinismus, die sich aus Unsicherheit speisen. Vielleicht auch aus schlechtem Gewissen wegen der Vertreibung der Mehrheit der mazedonisch- und bulgarischsprachigen Bevölkerung aus Griechenland und der gnadenlosen Unterdrückung der dort zurückgebliebenen Minderheiten.
Noch viel bedenklicher sind die Folgen der antitürkischen Ressentiments. Die griechische öffentliche Meinung folgte Serbiens Agitation gegen Bosnien, als es dessen südslawische Muslime mit Aggression und Genozid überzog und zu Türken erklärte. Griechenland nahm entschieden Partei für den Krieg des Milosevic. Dessen Schlächter Karadjic erhielt einen Griechischen Menschenrechtspreis. Griechenland unterlief über Serbien verhängte Sanktionen und lieferte Nachschub für Belgrad, nicht zuletzt Petroleum aus dem Nahen Osten. Das Milosevic-Regime durfte seine finanziellen Transaktionen über Athen und selbst über das ferne Zypern abwickeln.
Erst eine tolerante griechische Minderheitenpolitik nach den Maßstäben des Europarates und der Europäischen Union, erst die Anerkennung der Rechte von Aromunen, Arvaniten und Slawomazedoniern, die Beendigung diskriminierender Gesetze und Regierungspraxis gegenüber den drei muslimischen Minderheiten der Türken, Pomaken und Roma, wird verkrustete Ressentiments auflösen und das Verhältnis Griechenlands zu den Nachbarn in Südosteuropa entkrampfen.
Aber jede Beschäftigung mit den griechischen Minderheitenproblemen bedarf eines Blickes in Richtung Türkei. Alle türkischen Regierungen haben den Vertrag von Lausanne missachtet. In den 50er und sogar noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu schrecklichen Pogromen an den Griechen von Istanbul/Konstantinopel und den Inseln Imbros und Tenedos. Seit 1974 müssen 80 Prozent der Bevölkerung Nordzyperns als Flüchtlinge im griechischen Südteil der Insel leben. Sogar die Hälfte der türkischen Zyprioten hat das von türkischem Militär besetzte Nordzypern verlassen. Wenn wir diese Tatsachen im Auge haben, werden unsere Forderungen nach Toleranz für die Minderheiten in Griechenland umso glaubwürdiger