Am 07. Juni 2015 fanden in der Türkei die Wahlen zur „Großen Nationalversammlung“ statt, dem türkischem Parlament. Bei einer Wahlbeteiligung von 86 Prozent votierten 40,8 Prozent für die islamisch-konservative AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“), welche damit auf 257 Sitze kommt. Die „Große Nationalversammlung“ hat insgesamt 550 Sitze, womit die absolute Mehrheit bei 276 Sitzen liegt. Nach diesem Wahlergebnis hat die seit 2002 allein regierende AKP die absolute Mehrheit verloren. Zweitstärkste Kraft wurde mit 25,2 Prozent der Stimmen und 133 Sitzen die säkulare CHP („Republikanische Volkspartei“), gefolgt von der nationalistischen MHP („Partei der Nationalistischen Bewegung“) mit 16,6 Prozent und 82 Sitzen. Die pro-kurdische HDP („Demokratische Partei der Völker“) schaffte mit 12,8 Prozent der Stimmen den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde und kommt auf 78 Sitze im Parlament. Damit werden vier Parteien im türkischen Parlament vertreten sein.
Die AKP gewann im Jahre 2002 aufgrund des türkischen Wahlsystems mit 34,43 Prozent der Stimmen 365 Sitze im Parlament und damit die absolute Mehrheit. Für einen erfolgreichen Einzug ins türkische Parlament braucht eine Partei mindestens 10 Prozent der Stimmen, so dass die AKP mit ihrem Ergebnis damals die absolute Mehrheit erreichen konnte. Bei den Parlamentswahlen in den Jahren 2007 (46,58 Prozent / 341 Sitze) und 2011 (49,84 Prozent / 328 Sitze) verteidigte die AKP ihre absolute Mehrheit. Das Wahlergebnis vom 07.06.2015 mit 40,8 Prozent und 257 Sitzen stellt eine Zäsur für die AKP dar. Grund für dieses Abschneiden der AKP ist unter anderem auch der Einzug der HDP mit 12,8 Prozent der Stimmen und 78 Sitzen im Parlament. Ein weiterer Grund dürfte auch eine zunehmende Unzufriedenheit der türkischen Bürgerinnen und Bürgern mit der Politik der AKP bzw. der türkischen Regierung sowie dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan sein. Die AKP braucht für die zukünftige Regierungsbildung einen Koalitionspartner. Die HDP lehnt eine Koalition mit der AKP ab. Beobachter halten eine Koalition von AKP und MHP für am wahrscheinlichsten.
Für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan bedeutet das Wahlergebnis eine Niederlage. Er war bis zu seinem Amtsantritt als türkischer Staatspräsident am 28.08.2014 Vorsitzender der Partei AKP und von 2003 bis zu diesem Amtsantritt Ministerpräsident der Türkei. Nach dem Erdoğan in den ersten Amtsjahren als türkischer Ministerpräsident das alte System zu Gunsten von Reformen aufbrach, wurde er in den letzten Jahren zunehmend autoritärer und umstrittener. Unter seiner Amtszeit als türkischer Staatspräsident, ein Amt mit hauptsächlich repräsentativen Aufgaben, wollte Erdoğan ein Präsidialsystem einführen und damit selbst regieren. Die aktuelle türkische Verfassung gibt dem türkischen Präsidenten als Hüter der verfassungsmäßigen Ordnung zwar gewichtige Einzelkompetenzen, doch im Regelfall liegt die Exekutive in erster Linie bei der türkischen Regierung mit dem Ministerpräsidenten an der Spitze. Für eine entsprechende Verfassungsänderung bräuchte es einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, was 367 Sitzen entspricht. Alternativ könnte eine Änderung auch durch eine
Volksabstimmung herbeigeführt werden. Doch auch für diese bräuchte es die Zustimmung von 60 Prozent der Mitglieder des türkischen Parlaments, was einer Anzahl von 360 Abgeordneten entspricht.