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Nach dem Putsch in der Türkei

Seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei vom 15./16. Juli 2016 wurden bereits Tausende Personen festgenommen. Darunter Militärangehörige, Zivilisten, Staatsbedienstete und sogar Verfassungsrichter. Suspendiert wurden 6.000 Soldaten, 8.000 Polizisten, 3.000 Staatsanwälte und Richter, 20.000 Lehrer und 1.500 Dekane. Akademiker an staatlichen Einrichtungen dürfen weder die Türkei noch ihre Stadt verlassen. Die akademischen Angestellten von privaten Einrichtungen dürfen zwar ausreisen, jedoch nicht im Ausland tätig werden, etwa Vorträge halten. Insgesamt sind von Ausreiseverboten, Festnahmen und Suspendierungen bereits Zehntausende betroffen. Ein Ende der Maßnahmen ist nicht abzusehen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2016 wurde in der Türkei gemäß Artikel 120 der türkischen Verfassung für drei Monate der Ausnahmezustand verhängt. Dieser ermöglicht unter anderem die Einschränkung von Grundrechten zur Bekämpfung von bewaffneten Aufständen. So kann unter anderem die Freiheit der Medien eingeschränkt werden. Des Weiteren können gesetzliche Regelungen abweichend vom parlamentarischen Verfahren durch die Exekutive erlassen werden.

Nach Auffassung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan  sowie seiner Regierung und seinen Anhängern erfolgen alle Maßnahmen im Rahmen des Rechtsstaates und seien notwendig, um vorhandene Parallelstrukturen im Staat zu beseitigen. Diese Parallelstrukturen werden dem türkischen Prediger Fethullah Gülen und seinen Anhängern zugerechnet. Tatsächlich gibt es in der Türkei eine starke Anhängerschaft des Predigers. Dieser war ursprünglich mit Erdoğan verbündet. Später zerstritten sie sich und wurden erbitterte Gegner. Heute lebt Gülen in den USA. Jedoch gibt es weiterhin Schulen von ihm in der Türkei. Konkrete Beweise für eine Beteiligung von Gülen am Putsch gibt es nicht. Der Prediger wies die Vorwürfe auch zurück und forderte die türkischen Bürgerinnen und Bürger ebenfalls auf sich den Putschisten entgegenzustellen. Für die Kritiker des türkischen Präsidenten und seiner Regierung würden die Maßnahmen außerhalb des demokratischen und rechtsstaatlichen Rahmens stattfinden und nur das Ziel verfolgen alle Gegner und Kritiker des immer autoritärer agierenden Präsidenten zu beseitigen. Vergleiche mit der Situation in Deutschland im Jahre 1933 werden gezogen: Der Reichstagsbrand.  Diesen nutzten die Nationalsozialisten als Vorwand, um eine entsprechende Notverordnung durch den damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zu erwirken. Diese setzte die verfassungsmäßigen Grundrechte weitgehend außer Kraft und ermöglichte die Verfolgung aller politischen Gegner des Nationalsozialismus.

Bereits im Mai 2016 beschloss das türkische Parlament eine befristete Verfassungsänderung, um die Immunität von 138 Abgeordneten aufheben zu können. Diese Aufhebung soll eine Strafverfolgung der betroffenen Abgeordneten ermöglichen, von denen 50 der prokurdischen HDP angehören. Dazu wurde in Artikel 83 folgender Satz befristet ausgesetzt „Ein Abgeordneter, der verdächtigt wird, vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen zu haben, darf ohne Beschluss der Nationalversammlung nicht festgehalten, verhört, verhaftet oder einem Strafverfahren ausgesetzt werden.“  Auch wenn der formelle Beschluss dazu korrekt war, so ist dieser nicht mit den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaates vereinbar. Vor allem kann eine mögliche Strafverfolgung und Verurteilung von Abgeordneten im Ergebnis zu anderen Mehrheiten im Parlament führen. Damit würde der Wille der Wählerschaft unterlaufen und das Demokratieprinzip verletzt.

Es bleiben berechtigte Zweifel an den Maßnahmen der türkischen Exekutive. Zum Teil waren die Maßnahmen auch bereits vor dem Putsch vorbereitet worden. Es dürfte Parallelstrukturen geben, gegen die auch vorgegangen werden muss. Die Maßnahmen der Exekutive gehen jedoch viel weiter und darüber hinaus. Im Ergebnis gibt es keine Kontrolle der türkischen Exekutive mehr. Sie kann unbehelligt agieren. Mutmaßliche Verbrechen auf Seiten der türkischen Exekutive können unter den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht aufgeklärt und geahndet werden. Mit den Grundsätzen eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates, die laut Verfassung Staatsgrundsätze der Türkei sind, hat das nicht mehr viel zu tun. Des Weiteren wird offen über eine Einführung der Todesstrafe nachgedacht. Dies würde eine Abkehr von Europa bedeuten. Allerdings würde ihre Anwendung auf die Putschisten auch gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen, wenn dies erfolgen sollte. Eine Einführung der Todesstrafe würde auch das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union (EU) bedeuten, die ohnehin keine Priorität für die türkische Regierung mehr haben dürfte. Selbst die Rhetorik der türkischen Exekutiven befindet sich außerhalb eines rechtsstaatlichen Rahmens. So wird von Säuberungen und der Beseitigung von Elementen gesprochen. Die Türkei befindet sich in keiner guten Verfassung. Dafür ist nicht nur der Putsch, sondern auch das Agieren der türkischen Exekutive verantwortlich.