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Bulgarisch-makedonische Expertenkommission: Streit um Goce Delčev

Die gemeinsame multidisziplinäre Expertenkommission von Bulgarien und Nord-Makedonien für historische und bildungsrelevante Fragen auf paritätischer Grundlage tagte im Juni 2019.

Das Expertengremium soll die gemeinsame Geschichte von Bulgarien und Nord-Makedonien nach objektiven, authentischen und wissenschaftlichen Kriterien bewerten und der Deutungshoheit durch die Politiker entziehen. Historische Ereignisse und Persönlichkeiten sollen aufgrund der vielfältigen Verbindungen zwischen Bulgarien und Nord-Makedonien in der Vergangenheit gemeinsam begangen werden und gelten damit als Bestandteile der Geschichte und Kultur von beiden Nationen. 

Tatsächlich konnten sich beide Parteien im Rahmen des  Gremiums bezüglich bestimmter Abschnitte der Geschichte auch einigen. Doch jetzt gibt es einen Streit um die nationale Zugehörigkeit von Goce Delčev. Nach bulgarischer Auffassung ist er ein ethnischer Bulgare, nach makedonischer ein ethnischer Makedonier. Zu Lebzeiten von Goce Delčev war der makedonische Nationenbildungsprozess noch am Anfang, der in Bulgarien sehr viel weiter. 

Goce Delčev wurde am 04.02.1872 in Kukusch / Osmanisches Reich (heute Kilkis /griechische Region Zentral-Makedonien) geboren. Er wird sowohl als makedonischer wie auch als bulgarischer Nationalheld verehrt. Er war je nach Sichtweise ein makedonischer oder ein bulgarischer Revolutionär, der sich als einer der führenden Persönlichkeiten der „Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation“ („IMRO“) für eine Autonomie der Region Makedonien innerhalb des Osmanischen Reiches einsetzte. Am 04.05.1903 geriet Goce Delčev auf dem Weg nach Thessaloniki in der Nähe von Serres (heute griechische Region Zentral-Makedonien) in einen osmanischen Hinterhalt und wurde mit 11 weiteren Revolutionären getötet.

Goce Delčev wird sowohl von den ethnischen Makedoniern als auch von den Bulgaren als Nationalheld verehrt. Doch war er nun ein makedonischer oder ein bulgarischer Nationalheld? Diese Frage ist zunächst akademisch, doch hat sie für beide Seiten auch eine große politische Bedeutung. Für die ethnischen Makedonier war Goce Delčev einer der großen und legendären Führer der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO). Als solcher habe er sich für die Befreiung Makedoniens von der Osmanischen Oberhoheit eingesetzt. Für die Bulgaren war Goce Delčev ein Bulgare, da er sich als solcher gefühlt haben soll. Er habe sich aus pragmatischen Gründen für die Freiheit Makedoniens eingesetzt, da die damaligen politischen Rahmenbedingungen einen Anschluss an Bulgarien nichtzuließen. 

Letztendlich kann diese Frage nicht nach den heutigen Maßstäben und Realitäten beurteilt werden. Eine makedonische Nation im heutigen Sinne gab es zu den Lebzeiten von Goce Delčev noch nicht. Sie war sehr wohl als Keim vorhanden jedoch noch nicht vollendet. Zu dieser Zeit war noch nicht entschieden, ob sich die Makedonier zu einer eigenen Nation entwickeln oder Teil der bulgarischen Nation sein würden. Goce Delčev hat sich wahrscheinlich als Bulgare mit makedonischer Regionalidentität gefühlt. Offen bleiben muss die Frage, ob er sich im Kontext der späteren Geschichte zu einer makedonischen Nationalität bekannt hätte. Final entschieden wurde die Frage, ob die ethnischen Makedonier als eigenständige Nation oder als Teil der bulgarischen Nation ihr Schicksal bestimmen würden, in den Jahren 1943 bis 1945. 

Heute bilden die ethnischen Makedonier eine eigenständige Nation und unterscheiden sich damit als solche von der bulgarischen Nation. Goce Delčev hat mit Sicherheit einen Anteil an dieser Entwicklung gehabt und hat mit seiner politischen Einstellung, ob so gewollt oder aus pragmatischen Gründen, einen wichtigen Grundstein für die spätere makedonischen Nation und ihr Staatswesen gelegt. Aus heutiger Sicht ist Goce Delčev damit zu Recht auch ein makedonischer Nationalheld. Es besteht auch kein Widerspruch zur makedonischen Geschichte, wenn er von den Bulgaren ebenfalls als Nationalheld verehrt wird. Denn Goce Delčev dürfte sowohl ein makedonischer als auch ein bulgarischer Nationalheld und ein Streit darüber an sich überflüssig sein.

Am 07.10.1948 wurden die Gebeine von Goce Delčev von Bulgarien an die damalige Volksrepublik Makedonien übergeben, wo er sich heute noch befindet. An sich war am 07.10.2019 eine gemeinsame Feier von Bulgarien und Nord-Makedonien geplant, welche nun abgesagt wurde. Die nächste Sitzung des Expertengremiums soll im September 2019 stattfinden. Es ist zu hoffen, dass bis dahin eine Lösung in diesem akademisch-politischen Streit gefunden und der Streit nicht die bulgarisch-makedonischen Beziehungen belasten wird.