Die noch nicht abschließend geklärte spezielle makedonische Frage nach der Identität der ethnischen bzw. slawischen Makedonier ist eines der letzten Relikte des Zweiten Balkankrieges von 1913. Der Zweite Balkankrieg wurde formell durch den Vertrag von Bukarest vom 10.08.1913 beendet. Aufgrund dieses Vertrages wurde Makedonien zwischen Bulgarien, Griechenland und Serbien aufgeteilt. Diese Aufteilung besteht auch heute noch im Wesentlichen so fort. Aus dem serbischen Teil ging 1944 der makedonische Staat hervor, der sich von 1944 bis 1991 zunächst im Rahmen einer jugoslawischen Föderation befand und sich dann im Jahre 1991 für unabhängig erklärte. Der Zweite Balkankrieg und die Aufteilung Makedonien ist in diesem Jahr genau 100 Jahre her. Das Jahr 1913 ist eines von mehreren Schicksalsjahren für die weitere Entwicklung der ethnischen bzw. slawischen Makedonier zu einer Nation, die in der Republik Makedonien ihren eigenen Staat hat. Einige dieser Schicksalsereignisse feiern in diesem Jahr runde Jubiläen. Das Jahr 2013 könnte wieder ein Schicksalsjahr für Makedonien werden, in dem die spezielle makedonische Frage nach der Identität der ethnischen bzw. slawischen Makedonier endgültig geklärt und damit der sogenannte Namensstreit gelöst wird.
Das Jahr 1878 und die makedonische Frage
Vor 145 Jahren beeinflusste der Berliner Kongress (13.06. bis 13.07.1878) nachhaltig das weitere Schicksal Makedoniens und der makedonischen Bevölkerung. Aufgrund des Berliner Vertrages vom 13.07.1878, der den Berliner Kongress formell beendete, blieb die europäische Region Makedonien weiterhin beim Osmanischen Reich. Der Friedensvertrag von San Stefano vom 03.03.1878, der den Russisch-Türkischen Krieg beendete, sah noch ein Großbulgarien unter Einschluss von Makedonien vor. Dieses Großbulgarien hätte dann unter Einfluss Russlands gestanden, was eine deutliche Ausweitung des russischen Einflussbereiches in Europa bedeutet hätte. Vor allem Österreich-Ungarn störte jedoch der Machtzuwachs Russlands. Auch das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland sah seine europäischen Interessen gefährdet. Unter Vermittlung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck kam es daraufhin zum Berliner Kongress und zur Revision des Friedensvertrages von San Stefano. Makedonien blieb beim Osmanischen Reich, Bulgarien wurde deutlich verkleinert und auf zwei Staatsgebilde verteilt, blieb in dieser Form jedoch unabhängig. Griechenland, Montenegro und Serbien waren bereits unabhängig. Von da an machte die makedonische Bevölkerung eine von der bulgarischen und den anderen Völkern des Balkans separate Entwicklung durch. Das Schicksal der vor allem christlichen Bevölkerung Makedoniens im Osmanischen Reich begründete die allgemeine makedonische Frage, die erst später zum Teil beantwortet werden sollte. Doch davon an anderer Stelle mehr.
1893 – Der Beginn des makedonischen Freiheitskampfes
Vor 120 Jahren, am 23.10.1893, wurde von sechs jungen Personen in der Wohnung des Buchhändlers Ivan Nikolov in Thessaloniki (heute die griechische Region Zentral-Makedonien) die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“, kurz IMRO, gegründet. In ihren Statuten wurde festgelegt, dass die Organisation geheim sein sollte, dass sich ihre Tätigkeit nur auf Makedonien beschränken und eine Autonomie für Makedonien zum Ziel haben sollte, dass nur in Makedonien geborene oder lebende Personen in ihr Mitglied werden konnten und dass die Organisation unabhängig von Bulgarien, Griechenland und Serbien agieren würde. Tatsächlich entwickelten sich in der IMRO drei Flügel. Die Einen traten für eine Autonomie Makedoniens im Osmanischen Reich ein, die Anderen wollten einen Anschluss an Bulgarien oder die völlige Unabhängigkeit Makedoniens erreichen. Zwischen den Flügeln kam es zu teilweise blutigen Machtkämpfen um die Vorherrschaft in der IMRO. Diese Entwicklung setzte sowohl den ersten Keim eines makedonischen Nationalgefühls als auch einen Keim für eine pro-bulgarische Haltung in der makedonischen Bevölkerung. Unter Goce Delčev, der auf dem zweiten Kongress der IMRO in Thessaloniki im Jahre 1896 in das Zentralkomitee der Organisation gewählt wurde, bekam die IMRO eine straffe Führung und Organisation. Auf seinen Einfluss ist auch die Ausweitung der Tätigkeit der IMRO auf die Region Adrianopel (heute Edirne / Türkei) zurückzuführen. Außerdem sollten nicht nur Makedonier (im geographischen Sinne) sondern jede Person auf dem europäischen Gebiet des Osmanischen Reiches, unabhängig von ihrer Nationalität und Religion, Mitglied der IMRO werden können. Des Weiteren baute die IMRO unter der Führung von Goce Delčev ein weitverzweigtes Netz von Komitees aus. Die IMRO prägte mit ihren unterschiedlichen Flügeln die weitere Entwicklung in Makedonien. Ihre Ziele, ein unabhängiges Makedonien in seinen geographischen Grenzen oder ein Anschluss dieser Region an Bulgarien, wurden nie vollständig erreicht.
1903 – Ein weiteres Schicksalsjahr auf den Weg zur makedonischen Nation
Vor 110 Jahren war das Schicksal der makedonischen Nation noch längst nicht entschieden. Makedonien war immer noch Teil des Osmanischen Reiches, der pro-bulgarische und der pro-makedonische Flügel der IMRO kämpften weiterhin um das Schicksal Makedoniens. Im Frühjahr 1903 beschloss der Kongress der IMRO einen allgemeinen Aufstand in Makedonien auszurufen. Mit diesem Aufstand wollte die IMRO unter anderem die europäische Öffentlichkeit auf das Problem Makedonien aufmerksam machen und ein Eingreifen der europäischen Mächte erreichen.
Doch nicht alle führenden Köpfe in der IMRO, darunter auch Goce Delčev, waren für den Aufstand. Sie waren der Ansicht, dass die makedonische Bevölkerung auf einem Aufstand in dieser Größenordnung noch nicht vorbereitet und der Aufstand daher verfrüht sei. Am 02.08.1903 kam es dennoch in Makedonien zum sogenannten „Ilinden-Aufstand“, der zur Bildung der kurzzeitig unabhängigen „Republik von Kruševo“ führte. Dieser Aufstand wurde schon nach zwölf Tagen von osmanischen Truppen niedergeschlagen. Damit endete auch die Existenz der Republik von Kruševo. Doch gilt die Republik von Kruševo als historischer Vorläufer für den heutigen makedonischen Staat. Goce Delčev erlebte diesen Aufstand nicht mehr mit, er geriet am 04.05.1903 in einen osmanischen Hinterhalt und wurde umgebracht. Makedonien verblieb noch weitere 10 Jahre beim Osmanischen Reich.
1913 – Der Balkankrieg besiegelt das territoriale Schicksal Makedoniens
Vor 100 Jahren besiegelte der Zweite Balkankrieg das territoriale Schicksal der makedonischen Bevölkerung. Im Ersten Balkankrieg (08.10.1912 – 30.05.1913) wurde Makedonien durch Bulgarien, Griechenland und Serbien erobert und die Osmanische Herrschaft über Makedonien nach über 500 Jahren beendet. Im Zweiten Balkankrieg (29.06. – 10.08.1913) kämpfte Bulgarien vor allem gegen Griechenland und Serbien um die gemeinsame Beute Makedonien. Hintergrund des Zweiten Balkankrieges war, dass sich Bulgarien von Griechenland und Serbien bezüglich seines Anteils an Makedonien übervorteilt sah. Auch Rumänien und das Osmanische Reich kämpften im Zweiten Balkankrieg gegen Bulgarien, welches sich angesichts dieser Übermacht geschlagen geben musste und den Krieg verlor. Der Vertrag von Bukarest vom 10.08.1913 beendete formell den Zweiten Balkankrieg und regelte die Aufteilung Makedoniens zwischen Bulgarien, Griechenland und Serbien. Der Großteil von Makedonien (67.313 km²) wurde zwischen Griechenland (Ägäisch-Makedonien, 34.800 km²) und Serbien (Vardar-Makedonien, 25.713 km²) aufgeteilt. Bulgarien erhielt nur einen kleinen Teil von Makedonien (Pirin-Mazedonien, 6.800 km²). Die makedonische Bevölkerung war territorial aufgeteilt und in ihren neuen Heimatstaaten einer zum Teil sehr aggressiven Politik der Assimilierung ausgesetzt. Diese führte vor allem in Bulgarien und Griechenland zu einem Erfolg. Nur noch Minderheiten von ethnischen bzw. slawischen Makedoniern bekennen sich dort zum makedonischen Volk. Die Mehrheit der ethnischen bzw. slawischen Makedonier wurde entweder assimiliert oder vertrieben. Im serbischen Teil blieb eine entsprechende Entwicklung trotz einer serbischen Politik der Assimilierung aus. Die serbische Herrschaft blieb der makedonischen Bevölkerung im serbischen Teil von Makedonien überwiegend fremd. Der Großteil der dortigen makedonischen Bevölkerung betrachtete sich als nicht-serbisch. Offen blieb allerdings noch das weitere nationale Bekenntnis, ob pro-bulgarisch oder pro-makedonisch. Die IMRO blieb daher vor allem in Bulgarien und in Serbien bzw. im Königreich Jugoslawien weiterhin aktiv. Das Schicksal der makedonischen Bevölkerung im serbischen Teil von Makedonien sollte sich erst während des Zweiten Weltkrieges entscheidend ändern.
1943 – Die formelle Geburt der makedonischen Nation
Vor 70 Jahren, auf der Zweiten Sitzung des „Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens“ am 29.11.1943, wurde das Schicksal der makedonischen Bevölkerung im serbischen Teil von Makedonien nachhaltig und endgültig entschieden. Auf dieser Sitzung wurden die ethnischen bzw. slawischen Makedonier erstmals als gleichberechtigt mit den übrigen jugoslawischen Völkern und damit als eigenständige Nation anerkannt. Die makedonische Bevölkerung sollte durch ein eigenständiges Nationalbewusstsein den Einflüssen aus Bulgarien und Serbien entzogen werden. Später hat gerade dieses eigenständige Nationalbewusstsein zu mehr Stabilität in dieser Region geführt, da ein nicht mehr existierendes, ethnologisches Vakuum keine gegenseitigen Ansprüche der Nachbarstaaten mehr auslösen konnte. Folgerichtig wurde am 02.08.1944 im makedonischen Kloster Prohor Pčinski die erste Tagung der „Antifaschistischen Sobranje der Volksbefreiung Makedoniens“ eröffnet und damit der Schlussakt zur Gründung des makedonischen Staates innerhalb der jugoslawischen Föderation eingeleitet. Im Rahmen des makedonischen Staates entwickelten sich die ethnischen bzw. slawischen Makedonier dann endgültig zu einer eigenständigen Nation. Die Entwicklung der ethnischen bzw. slawischen Makedonier zu einer eigenständigen Nation, die weder bulgarisch noch serbisch ist, war erfolgreich und abschließend. Im bulgarischen Teil von Makedonien bekennen sich noch einige Tausend Menschen zu den ethnischen bzw. slawischen Makedoniern, im griechischen Teil von Makedonien sind es unabhängigen Schätzungen zu folge etwa 45.000. In beiden Staaten werden die ethnischen bzw. slawischen Makedonier jedoch offiziell nicht als Minderheit anerkannt.
1993 – Das ungeklärte Schicksal des makedonischen Staates als Völkerrechtssubjekt
Vor 20 Jahren, am 08.04.1993, wurde der seit 1991 von der jugoslawischen Föderation unabhängige Staat Makedonien unter der vorläufigen Bezeichnung „Die ehemalige jugoslawische Republik Makedonien“ in die Vereinten Nationen aufgenommen. Hintergrund dieser vorläufigen Bezeichnung und der relativ späten Aufnahme der Republik Makedonien in die Vereinten Nationen war bzw. ist der sogenannte Namensstreit zwischen ihr und der Hellenischen Republik um die Bezeichnung „Makedonien“. In der Resolution 817 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) vom 07.04.1993 wurde die Existenz des Namensstreits zwischen der Republik Makedonien und der Hellenischen Republik sowie die Bedeutung einer Lösung dieses Streits für den Frieden und die Stabilität in der betroffenen Region festgestellt. Gemäß dieser Resolution wurde die Republik Makedonien am 08.04.1993 unter der vorläufigen Bezeichnung „Die ehemalige jugoslawische Republik Makedonien“ in die Vereinten Nationen aufgenommen. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmte dieser Aufnahme per Akklamation zu. In Griechenland und in der Republik Makedonien fand dieser Kompromiss keine große Zustimmung. Im griechischen Parlament erhielt er nur eine knappe Zustimmung von 152 gegen 146 Stimmen. Im makedonischen Parlament beschuldigte die Opposition die Regierung, der Endnationalisierung Makedoniens Vorschub geleistet zu haben. In einer weiteren Resolution des VN-Sicherheitsrates (845) vom 18.06.1993 wurden Griechenland und die Republik Makedonien dazu aufgefordert den zwischen ihnen bestehenden Namensstreit im Rahmen und unter Vermittlung der Vereinten Nationen zu lösen. Mit dieser Aufgabe ist seit 1994 der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen Matthew Nimetz beauftragt. Diese Gespräche blieben bisher erfolglos. Doch 20 Jahre später, im Jahre 2013, scheint die Chance für eine Lösungsfindung gestiegen zu sein.
2013 – Das Schicksalsjahr für den sogenannten Namensstreit?
Auch genau 100 Jahre nach dem Balkankrieg bleibt ein wichtiger Teil der makedonischen Frage, die spezielle makedonische Frage nach der Identität der makedonischen Bevölkerung, Streitpunkt zwischen Bulgarien, Griechenland und der Republik Makedonien. Für Bulgarien sind die ethnischen bzw. slawischen Makedonier Teil der bulgarischen Kulturnation und nicht eigenständig. Für Griechenland ist die Bezeichnung der Republik Makedonien sowie der makedonischen Nation und Sprache ein Problem. Nach griechischer Auffassung ist die Bezeichnung „Makedonien“ ausschließlich ein Teil der griechischen Kultur und Geschichte und dürfe daher von nicht-griechischen Völkern nicht verwendet werden. Hier streiten also immer noch die drei Hauptakteure des Zweiten Balkankrieges bzw. die Staaten die vollständig oder anteilig in der Region Makedonien liegen. Anstelle Serbiens ist allerdings die „Republik Makedonien“ getreten, deren Staatsgebiet dem ehemals serbischen Teil von Makedonien entspricht. Dieses Gebiet wurde 1944 staatsrechtlich aus Serbien herausgelöst und ist spätestens seit 1993 völkerrechtlich als Staatsgebiet der „Republik Makedonien“ bzw. „Der ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien“ anerkannt. Unabhängig von den Auffassungen von Bulgarien und Griechenland hat sich die makedonische Nation fest in der Region etabliert. Diese Entwicklung ist ohne äußeren Zwang nicht mehr umkehrbar. Die ethnischen bzw. slawischen Makedonier betrachten sich selbst nicht als Bulgaren, Griechen oder Serben. Jede Lösung des sogenannten Namensstreits muss diese bereits abgeschlossene Entwicklung berücksichtigen. Hier muss ein Schlussstrich gezogen werden. Das sollten Bulgarien und Griechenland endlich tun. Das Jahr 2013, 100 Jahre nach dem Zweiten Balkankrieg und dem Vertrag von Bukarest, sollte zum Schicksalsjahr für die finale Beantwortung der makedonischen Frage werden. Am 08.01. und 09.01.2013 besuchte der Sondervermittler der Vereinten Nationen Matthew Nimetz zunächst Griechenland und anschließend am 10.01. und 11.01.2013 die Republik Makedonien. Er traf dort unter anderem mit den jeweiligen Ministerpräsidenten und Außenministern zusammen. Dabei präsentierte er neue Ideen für eine Lösung des sogenannten Namensstreits und bekam positive Reaktionen von beiden Seiten. Nach Auffassung von Matthew Nimetz haben jetzt sowohl Griechenland als auch die Republik Makedonien ein besseres Verständnis für die Ansichten der jeweils anderen Partei und es gibt ein gestiegenes Interesse bei beiden Parteien den sogenannten Namensstreit zu überwinden. Über den Inhalt der von Matthew Nimetz in Athen und Skopje vorgestellten Ideen ist bisher nichts öffentlich bekannt. Er selbst spricht von früheren Vorschlägen mit Veränderungen in einem bestimmten Kontext. Sollte tatsächlich das generelle Interesse an einer Lösungsfindung im sogenannten Namensstreits bei den beteiligten Parteien und das Verständnis der einen Seite für die Ansichten der jeweils anderen Seite gestiegen sein, dann sind die Chancen für eine Lösungsfindung auch tatsächlich gestiegen. Bereits ende Januar 2013 sollen am Sitz der Vereinten Nationen in New York Gespräche zwischen Matthew Nimetz, dem griechischen Vertreter Adamantios Vassilakis und dem makedonischen Vertreter Zoran Jolevski stattfinden. Die Verhandlungen werden zwar noch schwierig sein, doch die Hoffnung für 2013 bleibt: Abschließende und endgültige Klärung der makedonischen Frage, besonders der speziellen makedonischen Frage nach der Identität der ethnischen bzw. slawischen Makedonier und eine Lösung des sogenannten Namensstreits.