Die Republik Makedonien steht mit ihrer Verfassung vom 20. November 1991 seit nun mehr über 25 Jahren auf einer guten materiell-rechtlichen Basis. Allerdings befindet sich der Staat in keiner guten Verfassung. Die vorbildliche verfassungsrechtliche Entwicklung steht in einem unauflöslich erscheinenden Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in der Republik Makedonien. Nicht die verfassungsmäßigen Grundwerte, wie unter anderem dem Gemeinwohl zu dienen, stehen im Vordergrund des politischen Handeln, sondern die persönlichen Interessen der politischen Akteure und ihrer Klientelen. Für jeden demokratischen und sozialen Rechtsstaat, so auch gemäß der eigenen Verfassung für die Republik Makedonien, bleiben Klientelismus und Korruption förmlich ein tödliches Krebsgeschwür. Im Ergebnis verdrängt das Interesse nach persönlichem Machterhalt die Orientierung an das Gemeinwohl und untergräbt demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze.
Die verfassungsmäßigen Grundwerte der Republik Makedonien
Nach der Präambel in ihrer Verfassung wurde die Republik Makedonien mit dem Zweck als unabhängiger Staat konstituiert, die Herrschaft des Rechts herzustellen und zu festigen, die Menschenrechte und die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren. Des Weiteren Frieden und Koexistenz, soziale Gerechtigkeit, ökonomischen Wohlstand und Fortschritt im persönlichen und gemeinsamen Leben sicherzustellen.
In Artikel 8 der Verfassung werden die Grundwerte der verfassungsmäßigen Ordnung aufgezählt. Dazu zählen unterem wie bereits in der Präambel festgelegt:
die Grundfreiheiten und -rechte der Menschen sowie der Bürgerinnen und Bürger sowie die Herrschaft des Rechts (Rechtsstaatlichkeit).
Des Weiteren werden unter anderem noch aufgeführt:
- die Teilung der Staatsgewalt in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt,
- politischer Pluralismus sowie freie, unmittelbare und demokratische Wahlen,
- Humanismus, soziale Gerechtigkeit und Solidarität.
Die Staatsgewalt geht gemäß Artikel 2 der makedonischen Verfassung von den Bürgerinnen und Bürgern der Republik Makedonien aus. So ist in Absatz 1 festgelegt: „In der Republik Makedonien erwächst die Souveränität aus den Bürgern und gehört den Bürgern“. Dies wird in Absatz 2 noch konkretisiert: „Die Bürger der Republik Makedonien üben die Staatsgewalt durch demokratisch gewählte Vertreter, durch Volksentscheide und anderen Formen der unmittelbaren Willensäußerungen aus.“
Trotz Artikel 2 ist die Republik Makedonien jedoch eine repräsentative parlamentarische Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger üben ihren Willen hauptsächlich durch „demokratisch gewählte Vertreter“ aus. Dazu zählen die Abgeordneten im Parlament und der direkt vom Volk gewählte Staatspräsident. Trotz der Direktwahl des Präsidenten ist die Republik Makedonien eine parlamentarische Demokratie. Die vollziehende Gewalt liegt hauptsächlich bei der makedonischen Regierung, welche aus der Ministerpräsidentin bzw. dem Ministerpräsidenten sowie den Ministerinnen und Ministern besteht. Die Regierung wird wiederum vom Parlament gewählt und von diesem kontrolliert. Der Staatspräsident hat hauptsächlich repräsentative Aufgaben. Das Prinzip der repräsentativen parlamentarische Demokratie wird auch noch einmal durch Artikel 61 Absatz 1 der Verfassung normiert: „Das Parlament der Republik Makedonien ist das Vertretungsorgan der Bürger und Träger der gesetzgebenden Gewalt der Republik.“ Nach Artikel 62 Absatz 3 gilt: „Der Abgeordnete vertritt die Bürger und entscheidet im Parlament nach seiner Überzeugung“. In der Praxis unterliegt der Abgeordnete jedoch dem Fraktionszwang seiner Partei, wie es im Falle eines deutschen Bundestagsabgeordneten auch ist.
Die Republik Makedonien ist eine Parteiendemokratie. Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz (Artikel 21 GG), der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, werden Parteien in der Verfassung der Republik Makedonien zum Zwecke der politischen Willensbildung jedoch nicht besonders hervorgehoben. Artikel 20 Absatz 2 der makedonischen Verfassung formuliert lapidar: „Die Bürger können frei Bürgervereinigungen und politische Parteien gründen, ihnen beitreten und aus ihnen austreten“. Eine besondere Bedeutung bei der politischen Willensbildung weist ihnen die makedonische Verfassung jedoch nicht zu. Nach der Rechtsprechung des makedonischen Verfassungsgerichtes sind Parteien besondere Bürgervereinigung. Allerdings normiert Artikel 20 Absatz 3: „Die Programme und Tätigkeit der Bürgervereinigungen und politischen Parteien dürfen nicht auf die gewaltsame Zerstörung der verfassungsmäßigen Ordnung oder auf Entfachung nationalen, rassistischen oder religiösen Hasses oder nationaler, rassistischer und religiöser Intoleranz zielen.“
Der Verfassungsgericht der Republik kann zwar bei Verstoß gegen Artikel 20 Absatz 3 oder anderen Verfassungsbestimmungen durch Urteil die Programme der Parteien verbieten bzw. für aufgehoben erklären, nicht jedoch Parteien selbst verbieten. Im Gegensatz dazu ist ein durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts erklärtes Verbot von Parteien in der Bundesrepublik Deutschland möglich. Durch ein Verbot des Parteiprogramms endet die Existenz der Partei zumindest faktisch. Nach dem Parteiengesetz der Republik Makedonien kann das zuständige Gericht im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine Partei verbieten bzw. für aufgelöst erklären, nachdem das Verfassungsgericht das Parteiprogramm für Nichtig erklärt hat.
Die politische Realität in der Republik Makedonien
Die Parteien in der Republik Makedonien spielen in der Gesellschaft und politischen Praxis eine bedeutende Rolle. Allerdings nicht im ursprünglichen Sinne der Verfassung. Die Parteien sind wie im Falle Griechenlands Klientelparteien, welche ihre jeweiligen Klientelen bedienen – und nicht das Gemeinwohl. Demokratische politische Machtwechsel sind daher auch immer mit besonderen Problemen verbunden. Denn Machtwechsel bedeuten auch immer ein Ende der Befriedigung von persönlichen Interessen oder der Interessen der jeweiligen Klientelen. Daher ist ein Machtverlust nicht einfach bloß ein Verlust eines Mandates oder Amtes. Oft sind existentielle Verluste damit verbunden. In einem solchen System entscheidet auch nicht die persönliche Leistung über ein Fortkommen im Staate, sondern die vorhandenen persönlichen Beziehungen und Netzwerke. Hier kann von einem Dualismus zwischen der theoretischen verfassungsmäßigen Ordnung und der gelebten politischen Realität gesprochen werden. Dieses von Klientelismus und Korruption geprägte System ist für grundlegende politische, soziale, finanzielle und wirtschaftliche Probleme verantwortlich. Dieses System wird jedoch nicht nur von den politischen Parteien getragen, sondern ist auch breit und fest in der makedonischen Gesellschaft verankert. Dies zu Überwinden muss Ziel von Gesellschaft und Politik sein. Die Republik Makedonien wird anderenfalls nie eine stabile und prosperierende innere gesellschaftliche und politische Entwicklung erreichen. Bestimmte Wahlergebnisse sind bedeutungslos, wenn nicht das verkrustete System aus Klientelismus und Korruption überwunden wird.
Der Zeitraum von November 1990 (den ersten freien Wahlen) bis zum Juli 2006 war geprägt von voll ausgeschöpften Legislaturperioden und auch von regelmäßigeren Machtwechseln. So wurde die Regierung mal von der konservativen IMRO-DPMNE, mal von der sozialdemokratischen SDSM angeführt. Koalitionspartner war immer eine Partei der Angehörigen der albanischen Gemeinschaft in der Republik Makedonien, welche sich ebenfalls abwechselten. Nach der Wahl im Juli 2006 kam es zu einem Paradigmenwechsel. Der Vorsitzende der IMRO-DPMNE Nikola Gruevski wurde Ministerpräsident, die Regierung seit dem immer von der IMRO-DPMNE angeführt. Nach der ersten vorgezogenen Parlamentswahl vom 01. Juni 2008 ist die DUI (albanisch: BDI) durchgehend Koalitionspartner der IMRO-DPMNE. Politische Machtwechsel blieben auch nach zwei weiteren vorgezogenen Parlamentswahlen in den Jahren 2011 und 2014 aus. Zunehmend boykottierte die Opposition, angeführt von der SDSM, die Parlamentsarbeit. Gewöhnliche parlamentarische Auseinandersetzungen und Debatten fanden zunehmend nicht mehr statt. Zudem wurden Demokratie, Medien- und Meinungsfreiheit und die Rechtsstaatlichkeit immer mehr ausgehöhlt. Der Einfluss der Regierung auf die Justiz und die Medien stieg an. Die Bedingungen für eine faire Wahl wurden immer schlechter. Diese hier geschilderte politische Entwicklung verließ zunehmend den Boden der oben geschilderten verfassungsmäßigen Ordnung. Effektive Kontrollmechanismen, etwa ein unabhängig agierendes Verfassungsgericht, existierten zunehmend nicht mehr. Die politische Stimmungslage war nicht nur in der Bevölkerung extrem negativ, wie die Quote der Emigration aus der Republik Makedonien zeigte, sondern wurde zunehmend auch explosiv. Der Protest ging auf die Straße. Eine umstrittene und später zurückgenommene Amnestie für Politiker und Funktionsträger des Staates wegen mutmaßlichen Verbrechen durch den makedonischen Staatspräsidenten Gjorge Ivanov (IMRO-DPMNE), noch vor ihrer Aufarbeitung durch eine Sonderstaatsanwaltschaft, brachten das Fass schließlich zum überlaufen. Bis zuletzt versuchte vor allem die Regierungspartei IMRO-DPMNE die Aufklärung der Sonderstaatsanwaltschaft zu unterlaufen. Der im Januar 2016 aufgrund einer überparteilichen Vereinbarung als Ministerpräsident zurückgetretene Vorsitzende der IMRO-DPMNE Nikola Gruevski ist selbst im Fokus von Ermittlungen der Sonderstaatsanwaltschaft und gilt als mutmaßlicher Täter für Verbrechen. Allerdings muss auch betont werden, dass Klientelismus und Korruption auch in der Opposition weit verbreitet sind und kein Primat der Regierungsparteien ist. Doch fördert die zunehmende Machtdauer einer bestimmten Partei Klientelismus und Korruption unter ihren Angehörigen und benachteiligt die Angehörigen von anderen gesellschaftlichen Gruppen. Im Ergebnis kann festgehalten werden: Es gibt ein großes Spannungsverhältnis zwischen der am Gemeinwohl und gesellschaftlichen Pluralismus orientierten verfassungsmäßigen Ordnung und der tatsächlichen gesellschaftlichen sowie politischen Realität.
Ausweg
Die Verfassung der Republik Makedonien gibt den Ausweg aus der Krise vor. Sie bildet die Grundlage und den Rahmen für die gesellschaftliche Entwicklung sowie für politische Akteure und Funktionsträger des Staates. Bei den letzten Wahlen vom 11. Dezember 2016, welche weitgehend demokratisch und fair abliefen, hatten die Bürgerinnen und Bürger ihr Votum abgegeben. Bei einer Wahlbeteiligung von rund 68 Prozent gab es keine eindeutigen Gewinner und Verlierer. Es gab auch keine eindeutigen Mehrheiten für eine bestimmte Regierungskonstellation. Das Wahlergebnis drückt allerdings den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach Veränderungen und nach einer prosperierenden, sicheren Zukunft aus. Das Wahlergebnis darf nicht im Sinne der Interessen der Parteien interpretiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger der Republik Makedonien wollen definitiv kein weiter so. Im Rahmen eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates bedarf es einer gesunden politischen Kultur, welche von Debatten und Kompromissen zum Wohle der Allgemeinheit geprägt ist. Des Weiteren bedarf es einer effektiven Kontrolle durch die Justiz und die Medien. Das ist eine Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Staat. In grundlegenden Fragen bedarf es überdies einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens. Folgende außenpolitische Fragen können nur so geklärt werden:
- der Streit um den Namen „Makedonien“ mit Griechenland
- die zukünftige Mitgliedschaft der Republik Makedonien in der Europäischen Union (EU)
- die zukünftige Mitgliedschaft der Republik Makedonien in der NATO
Gegenüber ihren schwierigen auswärtigen Partnern, etwa Griechenland, kann die Republik Makedonien nur dann erfolgreich, effektiv und selbstbewusst agieren, wenn sie in einer guten Verfassung ist. Alles andere ist kontraproduktiv und nicht zielführend.
Innenpolitisch können unter anderen folgende Fragen ebenfalls nur durch einen breiten Konsens geklärt werden:
- Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage
- Chancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger der Republik Makedonien
- Überwindung aller noch bestehenden Konflikte zwischen den Ethnien der Republik Makedonien
Die Republik Makedonien könnte bei gutem Willen der gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Akteure zu einer Schweiz auf dem Balkan werden. Die Schweiz besteht aus verschiedenen Ethnien, die sich zu einer Willensnation zusammengeschlossen haben. Gemeinsam wollen sie im Rahmen ihres Staatsgebildes einen übergeordneten Zweck für eine prosperierende und sichere Zukunft verwirklichen. Das wäre auch ein Weg für die Republik Makedonien. Doch auch die demokratische Entwicklung der Schweiz, ein Dualismus von direkter Demokratie und Parteiendemokratie, könnte in abgewandelter Form für die Republik Makedonien ein Vorbild sein. Allerdings muss aufgrund der spezifischen Eigenheiten der Republik Makedonien sowie ihrer Bürgerinnen und Bürger das Verhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anders austariert werden als in der Schweiz. Die ethnischen Gemeinschaften mit vielen Angehörigen dürfen nicht einfach über die mit wenigen Angehörigen hinweg entscheiden können. Schon jetzt sieht die makedonische Verfassung besondere und qualifizierte Mehrheiten (doppelte Mehrheiten) für Belange vor, welche die ethnischen Gemeinschaften betreffen.
Fazit: Die politischen Parteien müssen nun ihrer Verantwortung gerecht werden und ihren verfassungsmäßigen Auftrag erfüllen. Sie müssen die Republik Makedonien in eine gute Verfassung zum Wohle ihrer Bürgerinnen und Bürger bringen.