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Die türkische Gesellschaft begehrt auf

Seit über 10 Jahren ist die gemäßigt islamische Partei AKP und die von ihr getragene Regierung unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan schon an der Macht. Zweifellos hat sich der türkische Staat und die türkische Gesellschaft seit dem stark verändert. Der bisher starke Einfluss der Armee wurde zurückgedrängt und die demokratischen Strukturen teilweise gestärkt. Selbst in der umstrittenen Kurdenfrage kam es für türkische Verhältnisse zu ungewöhnlichen Liberalisierungen. Insgesamt sieht sich die Türkei als selbstbewusste Regionalmacht, die auch aktive in der Nahostpolitik mitwirkt. Beispiele hierfür sind die türkische Politik gegenüber Israel und Palästina sowie gegenüber Syrien. Auch mit Griechenland ist das bilaterale Verhältnis deutlich besser geworden. Die Türkei strebt einen Vollmitgliedschaft in der Europäische Union an und hat sich auch wirtschaftlich deutlich entwickelt.

 

Das alles sind zunächst positive Nachrichten. Allerdings ist hier auch ein deutliches „aber“ angebracht. Die Regierung unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan agiert zunehmend autoritär und duldet im Prinzip keinen Widerspruch. Die demokratische Reformen sind noch längst nicht ausreichend und bedürfen einer weiteren Entwicklung. Vor allem das Rechtsstaatsprinzip ist noch nicht ausreichend entwickelt oder in der Praxis umgesetzt worden. Die Fortschritte in der Kurdenfrage sind wahrnehmbar, jedoch bei weitem nicht ausreichend. In der Außenpolitik ist die Türkei noch weit von einem möglichen Beitritt in die EU entfernt. Auch sind grundlegende Fragen, wie etwa der griechisch-türkische Gegensatz und die Zypern-Frage, noch weit von einer Klärung entfernt.

 

Jetzt begehrt auch die türkische Gesellschaft auf. Anlass war ein umstrittenes Bauvorhaben für den Gezi-Park in Istanbul, der sich neben dem Taksim-Platz befindet. Allerdings geht es bei den massenhaften Protesten in Istanbul, Ankara und anderen Städten längst nicht mehr um dieses Bauprojekt. Die Demonstranten fordern gesellschaftliche Reformen in Richtung mehr Demokratie und Rechtsstaat. Die Gesellschaft fordert auch mehr Freiheit und weniger Staat.

 

Doch die türkische Regierung setzt auf staatliche Gewalt und weniger auf Dialog. Sie ist offenbar fest entschlossen auch weiterhin die Protestbewegung mit Gewalt niederzuhalten. In Massenkundgebungen macht Erdogan mit seinen und den Anhängern der Regierungspartei AKP Stimmung gegen die Protestler, droht mit massiven Polizeieinsätzen und zeigt kein Verständnis für die Forderungen der Demonstranten. Sogar der Einsatz der bisher von der Regierung aus der staatlichen Politik zurückgedrängten Armee gegen die Demonstranten wird ins Spiel gebracht.

 

Die türkische Gesellschaft ist gespalten zwischen Anhängern der Regierung und ihren Gegnern. Zwar ist die Zustimmung zur bisherigen Regierung gesunken, doch dürfte ihre Anhängerschaft noch immer bedeutend sein.

 

Wenn Erdogan allerdings weiterhin auf Gewalt setzt wird er langfristig verlieren. Auch das außenpolitische Ansehen der Türkei wird sinken und hat schon jetzt Risse bekommen. Die europäische Perspektive für die Türkei war schon nicht besonders gut und dürfte jetzt noch einmal deutlich schlechter geworden sein.

 

Auf der anderen Seite könnte Erdogan auf die Stimme seines Volkes hören und die zur Zeit schleppend durchgeführten Reformen wieder verstärkt in den Fokus seiner Politik stellen. In der Anfangszeit seiner Regierungsjahre war Erdogan eine Kraftquelle für Reformen. Dies wird durchaus auch von der Opposition anerkannt. Dann ließen seine Reformbemühungen deutlich nach und es stellte sich ein  unbefriedigender Schwebezustand ein. Der Weg für Reformen in der Türkei ist lang und steinig und dennoch ohne Alternative. Auch die Stimme des Volkes wird auf lange Sicht nicht verstummen, wenn die Regierung nicht entsprechend handelt.